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Das WDR 3 Forum fragte: Wie gewinnen wir unser Publikum zurück?

Wie gewinnen wir unser Publikum zurück? - fragten WDR 3 und Landesmusikrat NRW am 21. März im Funkhaus Köln. Viele Konzerte verzeichnen kleine Besucherzahlen, die nicht auf Corona-Schutzverordnungen zurückzuführen sind. Offensichtlich hat das Vertrauen von Konzertbesuchern in die Veranstaltungsstätten gelitten. Oder sie haben sich das Präsenzerlebnis einfach abgewöhnt. Brauchen wir neue vertrauensbildende Rezepte? Oder hat die präsente Live-Veranstaltung ausgedient?

Im Kleinen Sendesaal des Funkhauses Köln diskutierten Dorette Gonschorek, Managerin bei ROOF Music und Geschäftsführerin des popboard NRW, PD Dr. Julia Merrill, Kognitions- und Musikwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt und an der Uni Kassel, Frauke Bernds, Programmleiterin der Kölner Philharmonie, und Thomas Kipp, Geschäftsführender Betriebsdirektor der Bochumer Symphoniker.

Moderator Peter Grabowski wirft eingangs ein skeptisches Licht auf die Veranstaltungen des klassischen Musikbetriebs. Viele Häuser melden eine Auslastung von lediglich 60 Prozent und sind von Prozentzahlen aus den Vor-Corona-Jahren weit entfernt. Thomas Kipp ist da positiver: Seine Bochumer Symphoniker verzeichnen bei ihren aktuellen Konzerten im Anneliese-Brost-Musikforum durchschnittlich 87 Prozent Auslastung. Für die Kölner Philharmonie benennt Frauke Bernds durchschnittlich 750 Plätze und wirkt so unzufrieden nicht, denn es ist sowieso nicht leicht, einen 2000-Plätze-Saal immer wieder zu füllen.

Dorette Gonschorek zeichnet ein heterogenes Bild: Das Publikum etwa von ihrer Rockband „Das Lumpenpack“ ist einigermaßen jung und flexibel und hält der Band die Treue, das Publikum von Götz Alsmann ist da schon etwas älter und bei Konzerten in kleinen Sälen in kleinen Städten gibt es oft leere Reihen. Generell scheinen kleinere Häuser größere Probleme zu haben als große Häuser in Großstädten.

Was hält die Menschen vom Konzertbesuch zurück? Die Publikumsforscherin Julia Merrill befragte Konzertbesucher‘innen vor und in der Pandemie. Viele vermissten die Live-Erlebnisse, doch eine nähere Betrachtung dieser Befragten zeigte, dass es vor allem die waren, die man zu den sehr aktiven Musikfreundinnen und -freunden rechnen muss. Für die weniger aktiven gilt das nicht in dem Maße. Viele Gelegenheitsbesucher‘innen haben ihr Freizeitverhalten während der Pandemie umgestellt. Manche haben sogar ihre früheren Kulturbesuche in Freundeskreisen nachträglich als Freizeitstress erkannt und wollen nicht mehr in das Kulturverhalten vor Corona zurück. Die werde man schwer zurückgewinnen, so Merrill.

Ein großes Hindernis ist die Maskenpflicht. Thomas Kipp berichtet von Leuten, die ihm sagten: „Solange ich Maske tragen muss, komme ich nicht.“ Frauke Bernds stimmt dem zu. Die Maske durchgehend tragen zu müssen, schreckt mehr ab als die Angst sich im Konzert zu infizieren.

Peter Grabowski versucht eine Provokation: Da die Zuwachszahlen im digitalen Bereich der Popmusik doch jährlich zweistellig seien, brauche die Musikindustrie da Konzerte gar nicht mehr? Dorette Gonschorek widerspricht vehement: Sieht man dies aus der Perspektive der Musiker’innen, brauche man die Konzerte unbedingt. Denn bei den digitalen Erlösmodellen verdienen die Musiker’innen in aller Regel ernüchternd wenig, sie leben von Konzerten. Thomas Kipp sieht im Erfolg des Streamings letztlich nur eine Sehnsucht nach Konzerterlebnissen. Julia Merrill relativiert durch den Hinweis, dass gerade in den Pandemie-Jahren etliche neue Alben mangels Live-Touren unbeachtet blieben.

Man kann ein digitales Musikangebot wie ein Konzerterlebnis tunen, indem man Feedback-Funktionen einführt, Chat anbietet und es auf ein bestimmtes Zeitfenster beschränkt. Doch ersetzen kann man ein Konzerterlebnis dadurch nicht. Vor allem das soziale Element ist in Präsenz nicht mit digitalen Lösungen vergleichbar. Peter Grabowski resümiert, dass das soziale Element das Konzert attraktiv macht, doch im Wieder-Hochfahren des Konzertbetriebs auch die Gefahr für das Konzert darstellt. Thomas Kipp mahnt eine realistische Bewertung der Gefahren an: Eine Normalisierung der Verhältnisse ist dann gegeben, wenn die subjektive Gefahr, auf dem Weg zum Konzert von der Straßenbahn überfahren zu werden, so groß sei wie die, sich zu infizieren. Das muss dann aber auch ins allgemeine Bewusstsein rücken.

Welche Maßnahmen verringern die Hürde vor dem Wiedereintritt in den Konzertsaal? Frauke Bernds schildert Überlegungen, die verschiedenen Sitzblöcke in der Kölner Philharmonie so anzubieten, dass man volle für ein normales Erlebnis oder Blöcke mit Abständen oder Blöcke für Gruppen buchen kann. Aus vertriebstechnischen Gründen wurde der Plan nicht umgesetzt. Dorette Gonschorek hat ähnliche Konzepte in wechselnden kleinen Konzertsälen ausprobiert und kann erfreulichen Zuspruch vermelden. Julia Merrill plädiert für begleitende Maßnahmen, die Motivation und Neugier wecken. Als Beispiel nennt sie das Pandaemonium des Kasseler Staatstheaters, das seine Besucher‘innen auf ein aufwändiges Gerüst verteilt.

Ein weiteres mögliches Instrument der Vertrauensbildung haben Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die Vorsitzende der Kulturministerkonferenz Isabel Pfeiffer-Poensgen vorgeschlagen: eine Ampel als graphisches Zertifikat für die Belüftungsbedingungen. Frauke Bernds ist skeptisch, wie viel Vertrauen eine solche Ampel bilden könnte. Die Kölner Philharmonie erhielt für ihr Belüftungssystem das Zertifikat der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft, doch Frauke Bernds konnte keinen nennenswerten Effekt des Zertifikats auf die Publikumsgewinnung feststellen. Thomas Kipp kann sich die Ampelkennzeichnung gut als internes Instrument auf Arbeitsebene der Veranstalter vorstellen.

Welche Unterstützung brauchen die Veranstalter bei der Rückgewinnung des Publikums? Dorette Gonschorek wünscht sich mehr Förderung für kleine Veranstalter und Veranstaltungshäuser, weil deren Formate es derzeit am schwersten haben. Thomas Kipp benötigt finanzielle Unterstützung beim Wieder-Hochfahren des Konzertbetriebs, nachdem die Symphoniker während der Pandemie ohne zusätzliche Förderung ausgekommen sind. Frauke Bernds möchte verstärkt die Besucher‘innen in den Blick nehmen, die ab und zu mal kommen. Was erwarten sie an Komponenten eines Konzerts, so dass sie öfter kommen würde? Wie wahrscheinlich ist es, dass 2024 alles wieder wie vorher ist? – möchte Peter Grabowski abschließend von Julia Merrill wissen. Ihre Antwort ist kurz und präzise: Sehr wahrscheinlich.

Das WDR 3 Forum veranstaltete der Westdeutsche Rundfunk in Kooperation mit dem Landesmusikrat NRW.

rvz

Die am 21 März aufgezeichnete Veranstaltung wurde am 3.4.2022 gesendet und ist bis zum 3.4.2023 in der Mediathek abrufbar:
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-forum/index.html