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Kirchen sind Gemeingüter: Landesmusikrat NRW unterzeichnet Manifest

Eine Initiative mehrerer Einrichtungen um Ulrike Sommer, Senior Expert und ehemalige Geschäftsführerin der Wider Sense TraFo gGmbH, veröffentlicht das Manifest "Kirchen sind Gemeingüter!" Der Deutsche Musikrat und der Landesmusikrat NRW gehören zu den Erstunterzeichnern. Weitere Unterzeichnende können sich auf Kirchenmanifest - moderneREGIONAL (moderne-regional.de) eintragen. Das Manifest im Wortlaut:

Kirchen sind Gemeingüter!

Manifest für eine neue Verantwortungsgemeinschaft

Kirchen und ihre Ausstattungen gehören zu den wichtigsten Zeugnissen des Kulturerbes in Europa. Doch die christlichen Gemeinschaften sehen sich zunehmend nicht mehr in der Lage, diesen wertvollen Bestand zu erhalten. Immer weniger Gläubige nutzen die Räume, die Kirchensteuereinnahmen sinken, immer mehr Bauten werden außer Gebrauch gestellt oder gar abgerissen. Kirchenräume sind jedoch Common Spaces – viele Menschen haben oft über Jahrhunderte zu diesem Gemeingut beigetragen. Wer diese Bauten heute allein privatwirtschaftlich als Immobilien betrachtet, beraubt die Communitas. Staat und Gesellschaft können und dürfen sich ihrer historisch begründeten Verantwortung für dieses kulturelle Erbe nicht entziehen. Deshalb rufen wir dazu auf, der neuen Lage mit neuen Formen der Trägerschaft zu begegnen: mit einer Stiftung oder Stiftungslandschaft für Kirchenbauten und deren Ausstattungen.

Kirchenbauten sind mehrfach codierte Orte

Kirchenbauten sind zunächst Räume der christlichen Bekenntnisse und damit Zeugnisse der Geschichte der Menschen mit Gott. Zugleich sind sie kulturelles Erbe aller Menschen. Sie sind Räume der Kunst, des Handwerks und der Musik. Kirchen wirken oft stadt- oder dorfbildprägend und eröffnen damit spannende soziale Erfahrungs- und Chancenräume.

In Deutschland gibt es etwa 40.000 Kirchen. Sie werden seit Jahrhunderten von Gläubigen erwirtschaftet, geschaffen und unterhalten. Beinah täglich werden Bauten außer Gebrauch gestellt oder sogar abgerissen. Nach ihrem Selbstverständnis sind die Kirchen Sachwalterinnen dieses Bestands. Doch sie alleine sind heute mit dem Erhalt überfordert. Politik und Gesellschaft lassen sie gewähren oder scheuen, die Verantwortung zu übernehmen. Fallen Kirchenbauten weg, verändern sich Städte und Dörfer jedoch gravierend. Daher brauchen wir eine breite Debatte über eine neue Trägerschaft, um Kirchenbauten als Gemeingüter zu sichern.

Kirchenbauten fordern Teilhabe

Oft haben sich die kirchlichen Institutionen bereits von den kulturellen Markern ihrer Religion verabschiedet. Doch alle Menschen haben ein Recht auf Teilhabe am kulturellen Erbe, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie zahlreiche Konventionen der UNESCO und des Europarats festhalten. Dieses Recht gilt explizit für die diversen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts.

Kirchenbauten prägen – v. a. seit Ende des Zweiten Weltkriegs – die Gestaltung der europäischen Einheit. Vor Ort bilden sie Knotenpunkte in einem kontinentalen Netzwerk der Beziehungen. Als grundsätzlich frei zugängliche Räume stehen sie für Gruppenerfahrungen und kulturelle Erlebnisse offen. Diesen Schatz gilt es, als lebendiges Erbe zu erhalten.

Kirchenbauten sind radikal öffentliche Orte

Schon die Bibel kennt beides: Da ist zum einen der menschliche Stolz, für Gott ein prächtiges Haus zu bauen. Da ist zum anderen die Kritik an der Selbstanmaßung, Gott auf einen menschlich gemachten Raum begrenzen zu wollen. Beide Überzeugungen finden sich im Kirchenbau wieder. Ob Bettelordenskirche oder Dom, ob Gemeindezentrum oder Betonburg, am Ende können Liturgie und soziale Verantwortung auch räumlich nicht ohne einander. Gott braucht keine Kirchenbauten, aber die Menschen sind auf solche Räume angewiesen.

Im Sinne einer weltoffenen, einer Öffentlichen Theologie versteht sich Kirche als integraler Bestandteil der sie umgebenden Gesellschaft, ohne völlig in ihr aufzugehen. Dieses Plus, diesen Mehrwert vermitteln Kirchen sinnfällig als radikal öffentliche Räume. Daher muss ihre Zukunft mit allen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren ausgehandelt werden.

Kirchenbauten sind nachhaltiges Kulturerbe

Denkmalpflege und Denkmalschutz folgen dem Auftrag, die materielle Überlieferung zu hüten. Genau hier ist die Unverfügbarkeit kultureller Ressourcen als „öffentliches Interesse“ gesetzlich verankert. Auch nicht denkmalgeschützte Bauten erfüllen wichtige öffentliche Anliegen. Gerade Kirchen der Moderne sind besonders gefährdet, denn hier treffen demografische Veränderungen auf die Abwertung moderner Formen und Materialien. Doch in ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft bieten sie wertvolle Reibungsflächen, um unsere freie demokratische Gesellschaft weiterhin erfahrbar zu machen. Vor diesem Hintergrund zählen Kirchen jeden Alters mit ihrem besonderen baukulturellen Anspruch nach wie vor zu den bedeutendsten Bauaufgaben im kulturellen Erbe.

Kirchen sind eine wertvolle materielle Ressource. Seit Jahrhunderten haben sie sich als robuste, transformierbare Architekturen erwiesen. Sie verkörpern den sorgsamen Umgang mit Baustoffen, das Wissen um das Reparieren, Weiterbauen und Umnutzen. Indem sie vergangene Energieflüsse und CO2-Emissionen speichern, entlasten sie heute das Klima. Kirchen bieten – allein durch ihre Größe – kühle öffentliche Räume in den sich erhitzenden Städten. Deshalb fordern wir einen Paradigmenwechsel: weg von Abriss und Neubau, hin zu Weiternutzung und Umbau.

Kirchenausstattungen gehören zum Erbe Europas

In ihren Ausstattungen bewahren Kirchen Kunstschätze aus mehr als 1200 Jahren, je nach Konfession und Region in unterschiedlicher Weise. Diese vielfältigen Ausstattungen, zu denen auch baubezogene Kunst, Glocken und Orgeln zählen, verdanken sich dem Engagement ungezählter Schenkerinnen und Schenker. Sie bezeugen verschiedene Entstehungszeiten, Frömmigkeitsvorstellungen und theologische Überzeugungen. Sie machen die Kirchen zu Räumen des Gesprächs über Glaubensvorstellungen und zu kulturellen Erzählräumen.

In ihrer Vielfalt sind Kirchenausstattungen eine unschätzbare Ressource für das friedliche Zusammenleben. Als kulturelles Erbe müssen Kirchen und ihre Kunstwerke daher durch verlässliche Öffnungszeiten, durch wissenschaftliche Forschungs- und Vermittlungsprojekte sowie durch eine weitherzige Nutzungsperspektive allen zugänglich gemacht werden.

Kirchenbauten sind Dritte und Vierte Orte

Eindringlich betont der Soziologe Ray Oldenbourg die Bedeutung der Dritten Orte (third places). Sie werden von Menschen auf ihren Wegen zwischen dem Zuhause (first place) und der Arbeitsstätte (second place) angesteuert. Auch Kirchen sind solche Orte kultureller Praxis und bürgerschaftlicher Begegnung. Mehr noch: Durch ihre Baubedeutungen und ihre Verflechtungen in den Stadtteilen sind sie weiterhin Vierte Orte, wenn sie in Dörfern und Stadtquartieren offene, spirituell bedeutsame Chancenräume einer Sorgenden Gemeinschaft bilden.

Besonders in den ländlichen Räumen sind Kirchen bauliche Wahrzeichen, zentrale Orientierungspunkte, Zeuginnen einer geistigen Tradition – und wichtige Treffpunkte. Denn anders als Dorfladen, Dorfkneipe oder Wirtshaus, Kulturhaus und Schule verschwinden sie nicht, wenn die Gemeinde schrumpft. Projekte wie das (von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien mit Mitteln aus dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung geförderte) „Kirchturmdenken“ haben gezeigt: Gibt man ihnen die Chance, werden ländliche Kirchen zu Orten klug komponierter Kulturangebote und bürgerschaftlicher Begegnungen.

Kirchenbauten brauchen eine neue Trägerschaft

Wir fordern eine neue Stiftung oder Stiftungslandschaft. Wird das Eigentum an bedrohten Kirchenbauten und ihren Ausstattungen durch eine Stiftung übernommen, verringert sich der wirtschaftliche Verwertungsdruck. Als Vorbild steht das erfolgreiche Modell der „Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur“ bereit, die vom Bund, vom Land Nordrhein-Westfalen, von der RAG-Stiftung, der RAG AG und vom Regionalverband Ruhr finanziell gefördert wird. So können in Nordrhein- Westfalen seit 1995 Bauten gesichert, erforscht, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und neuen Nutzungen zugeführt werden.

Eine breit aufgestellte Verantwortungsgemeinschaft mit Staat, Gesellschaft und weiteren Akteurinnen und Akteuren sieht die Kirchen als kooperative Partnerinnen. Mit lokalen bzw. regionalen Partner­schaften kann eine Stiftung Nutzungskonzepte entwickeln, die dem Denkmalwert der Kirchenbauten angemessen sind, das Recht auf Teilhabe verwirklichen und auf Nachhaltigkeit angelegt sind.

Kirchenbauten und ihre Ausstattungen gehören nicht allein den kirchlichen Institutionen und Gemeinden. Als ererbte Räume sind sie Gemeingüter, sie gehören allen.

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