Unter dem Eindruck Hunderttausender Flüchtlinge, die zurzeit nach Deutschland kommen, wird in der öffentlichen Diskussion oft von der "aktuellen" oder auch "neuen" Herausforderung gesprochen. Seit den entsetzlichen Ereignissen in Paris ist es dringlicher als je zuvor sich der Dimensionen dieser Herausforderung bewusst zu werden. Flüchtlinge nun direkt oder indirekt unter Terrorismusverdacht zu stellen, ist angesichts der Bilder der Verzweiflung, die uns nach wie tagtäglich von den Grenzen erreichen, mehr als zynisch.
Es gilt die Balance von Schutzbedürfnis, Freiheitsanspruch und gesellschaftlichem Auftrag nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn die Bewältigung dieser Aufgabe in der Tat eine große Herausforderung darstellt, sie sollte nicht nur als Belastung gesehen werden. Denn sie birgt auch Chancen für ein neues und respektvolles Miteinander. Die Mittel dafür halten wir selbst in der Hand.
Eintreten der Bürgerschaft
Es gibt eine wahrhaft beeindruckende Zahl von Initiativen, Engagements und Experimenten, die Mut machen. Diesen oft bürgerschaftlichen Aktionen müssen nun starke unbürokratische Initiativen der öffentlichen Träger und Verbände folgen. Projektförderstrukturen und -formate müssen auf rasche Umsetzbarkeit hin überprüft, schnelles, flexibles Handeln ermöglicht werden.
Hier sind Kulturschaffende im Allgemeinen und Künstler/innen im Besonderen in Partnerschaft mit Kommunen, Verbänden und Kirchen erfahrene und verlässliche Ideengeber für kreative, zielgruppenorientierte, unkonventionelle Handlungsangebote. Im öffentlichen Bewusstsein zu wenig verankert ist dieser große Einsatz von Kulturschaffenden und Kreativen. Ihre Arbeit mit den Flüchtlingen und ihr Wirken für den Dialog muss anerkannt und mit Mitteln ausgestattet werden. Es darf hier nicht zu Verteilungskämpfen kommen, indem die wenigen Mittel für Kunst und Kultur und ihre Akteure gesplittet werden in solche für Flüchtlinge einerseits und für „normale“ Kunst und Kultur andererseits.
Gesellschaft und Kultur des Respekts und der Liberalität
Soll es letztlich nicht nur um reine Notverwaltung gehen, ist auf längere Sicht die Frage nach einer gesellschaftlichen Vision von entscheidender Bedeutung. Der NRW Kulturrat sieht hier bei allen Schwierigkeiten, die die zu bewältigenden Aufgaben mit sich bringen, Chancen für eine offene interkulturell geprägte, europäische Gesellschaft. Das Ziel sind gleichberechtigte Formen der Sozialgemeinschaft sowie ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion auf Augenhöhe. Wir sollten dabei so klug sein, Integration nicht als Anpassung an kulturelle Standards misszuverstehen, sondern als wechselseitigen Prozess.
Die Chance der Herausforderung, ihr eigentlicher Kern, liegt in der Erweiterung des interkulturellen Horizonts. Die oft deklamierte Qualität der Vielfalt findet in der Bewältigung genau dieser Herausforderung ihren Prüfstein. Denn Vielfalt hat nicht an sich schon Qualität. Sie bedarf der Zusammenführung zu einer Idee von Gemeinschaft. Der belgische Theologe Bert Roebben spricht in diesem Zusammenhang von einem „sinnvollen Horizont auf dem die Lebensgeschichten von Menschen zu einem größeren Ganzen miteinander verbunden werden und der die individuellen Lebensläufe übersteigt.“
Mut zu beginnen
Diesen Horizont nicht aus dem Blick zu verlieren, ist angesichts der enormen Heterogenität der Lebensläufe, die es zu verbinden gilt, wahrhaftig kein leichtes Unterfangen, und er macht vielen Menschen Angst. Denn das Bekenntnis zur Vielfalt als gesellschaftlicher Qualität erfordert vor allem die Bereitschaft zur Veränderung. Dies gilt ohne Zweifel für alle Beteiligten - für die, die "immer schon" hier waren, aber sicher auch für die, die neu hinzukommen. Wir sehen darin zwingende Notwendigkeit und neue Chancen des interkulturellen Dialogs.
Nichts wäre in diesem Zusammenhang fataler als der Rückfall in nationalstaatlich hermetisches Denken.
Der Kulturrat NRW plädiert deshalb mit Nachdruck für einen offenen Kulturbegriff. Nicht auf Basis eines „anything goes“, sondern zentriert um die Grundwerte von Respekt und Liberalität müssen wir Gemeinsamkeiten in der kulturellen Vielfalt herstellen und festhalten. Dies ist ein Prozess, der besondere Strukturen erfordert, die Kommen und Gehen, also permanenten Wechsel der Beteiligten aushalten. Der Kulturrat NRW tritt für die folgenden Faktoren in diesem Prozess ein:
* Projektformate, die sich flexibel den Bedingungen anpassen sind gefragt.
* Projektgelder müssen schnell, so unbürokratisch wir irgend möglich bereitgestellt werden.
* Das Scheitern von Experimenten muss möglich sein.
* Kooperationen mit Flüchtlingsnetzwerken und der gezielte Erfahrungsaustausch aller Akteure sind notwendig; dazu sollte ein einfach strukturiertes, zentrales Austausch-Format etabliert werden.
* Die Identifikation und die Einbeziehung geflüchteter Künstler in die Projekte haben sich bereits bewährt und sind weiter auszubauen.
* Das Land NRW sollte Sonder-Stipendien für kulturelle Brückenbauer zur Verfügung stellen, die mit unterschiedlichen Qualifikationen, variabel an Brennpunkten einsetzbar sind.
* Eine besondere Aufgabe kommt Sprachlotsen unterschiedlicher Herkunft zu, die im öffentlichen urbanen Leben, aber sicher auch in der Fläche, für leicht verfügbare Kommunikation Sorge tragen.
* Der finanzielle Einsatz kultureller Einrichtungen, Verbände und Initiativen muss gesteigert werden; nur so können die notwendigen Projekte und Maßnahmen zugunsten der Flüchtlinge gestemmt werden.
Der Kulturrat NRW begrüßt deshalb die Absicht des Kulturministeriums NRW einmalig zusätzliche Mittel der Kulturförderung für die Flüchtlings-Kulturarbeit um 400.000 Euro bereitzustellen. Diese müssen jedoch zwingend gesteigert und verstetigt werden.
Gerhart Baum, Vorsitzender des Kulturrats NRW, Köln, 20. November 2015