Hildegard Kaluza, Leiterin der Kulturabteilung im Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, berichtete am 3. April 2019 auf der Tagung „Kunst.Kultur.Digitalität“ der Kulturregion Bergisches Land darüber, was die Kulturministerin von der Tagung des Kulturrats NRW über Kultur und ihre digitale Herausforderung mitgenommen hat. Die Vertreter der Kultursparten hatten im September 2018 in Düsseldorf vor allem Unterstützung in Bezug auf Produktions-Freiräume und das Recht auf Scheitern gefordert. Die Kulturabteilung bevorzugt nun prozess- und nicht ergebnisorientierte Förderungen.
Hatte die Tagung des Kulturrats NRW den Fokus vor allem auf die Bedürfnisse der Sparten in Bezug auf Digitalisierung gerichtet, wandte sich die Konferenz der Kulturregion Bergisches Land in der Akademie des Bundes und des Landes NRW der Kulturellen Bildung Remscheid mehr übergeordneten Fragestellungen zu. Die Tagung des Kulturrats bot dabei eine Art Feststellung der Ausgangslage, von der Anselm Kreuzer, Komponist, im Detail berichtete. Stützen konnte er sich dabei auf den soeben veröffentlichen Tagungsbericht des Kulturrats, der als pdf unter www.kulturrat-nrw.de vorliegt.
Verringerung des Value Gaps
Die Digitalisierung bedeutet für die Künstler, dass ihre Werke immer schneller über die Plattformen rauschen, so Kreuzer. Neue Vermarktungsmöglichkeiten entstehen, doch die Vergütung wird drastisch geringer. Eine Verknappung des Werks lässt sich nicht mehr herstellen.
Es gibt zwei Währungen im Internet, diejenige der Aufmerksamkeit und die des Geldes. Die Aufmerksamkeit mag noch zum Teil an die Künstler gehen, das Geld geht in der Regel an die Plattformen, wodurch der Value Gap entsteht.
Künstlern bleibt oft nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, über die im Netz generierte Aufmerksamkeit an anderer Stelle zu profitieren. Nina George hatte dazu im September das Bild eines Frosches gemalt, der merkt: Das Wasser um ihn herum wird unangenehm warm, aber er denkt, dass das so sein muss, wenn er groß herauskommen möchte; dass er gerade gekocht wird, merkt er zu spät; in der Hoffnung auf Erfolg merken Künstler oft nicht, wie ihre Leistung im Internet von Andreren genutzt wird, während sie selbst verheizt werden. Das Vorleistungsprinzip, der Künstler möge erst einmal der Aufmerksamkeit halber liefern, ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Künstler hinterfragen kaum noch, ob sie den Verbreitungsweg für ihre Werke selbst bestimmt haben.
Tatsächlich brauchen Künstler vor allem Freiraum und Ressourcen, die es erlauben, auch mal zu scheitern. Netzaktivisten reklamieren zwar die Freiheit des Netzes für sich. Dieter Gorny forderte jedoch, dass Freiheit mit dem Moment der Nachhaltigkeit kombiniert werden müsse. Digitaler Überfluss kann nicht für einen Mangel an Schaffensraum und -möglichkeiten sowie den Verlust an Beteiligung am wirtschaftlichen Vorteil der Kunst entschädigen. In diesem Zusammenhang waren sich die Referentinnen und Referenten der Kulturrats-Tagung einig, dass die umstrittene EU-Urheberrechtsrichtlinie das Potenzial hat, den Value Gap zu verringern.
Eine positive Tendenz war in der September-Tagung genannt worden: Im Zuge der intensiven Befassung mit Algorithmen und die Nachahmung lebensechter Prozesse hat das Gefühl als Moment in der Komposition für Musikwissenschaftler wieder eine neue Bedeutung gewonnen. Die Utopie der Grenzenlosigkeit bei der Entwicklung von Algorithmen weicht aber insgesamt eher einer Ernüchterung. Denn ohne ein Miteinander von analogen und digitalen Prozessen funktionieren Produktionen selten; jedenfalls sollte der digitale Fortschritt nicht als Argument einer Entwertung menschlichen Schaffens herangezogen werden, nur um die Vergütung real geschaffener und rezipierter Kunst zu drücken.
Kreuzers Forderung ging über den Umgang mit Digitalität hinaus: Politiker müssten den Wert der Kunst wieder verstärkt anerkennen und Künstlern das Gefühl geben, dass es eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist, sie mit Schutz auszustatten. Letztlich ginge es auch um den Wert der Kunst für die Demokratie. Die Künstler sorgen sich derzeit um die Demokratie im Zeitalter der Digitalität. Der Kulturrat NRW hat sich diese Sorge zu eigen gemacht und arbeitet mit Veranstaltungen auf eine Unterstützung der Demokratie hin.
Hidden Values
Mads Pankow aus Berlin erläuterte den Begriff der Hidden Values, der seit einigen Jahren zunehmend auch in die Kreativwirtschaft einzieht. (Vgl.: Hidden Values – Die Währungen der Zukunft, hrsg. von Creative.NRW, Köln 2018.) Aufmerksamkeit, Beziehungen, Einzigartigkeit und Datenmengen sind typische Werte unter den Hidden Values. Pankow führte das Phänomen anschaulich anhand von Espressokapseln ein: In der Überflussgesellschaft müssen Güter des Überangebots in Immaterielles verwandelt werden, um den Preis hoch zu halten. Ein Kultfaktor muss erarbeitet werden. Die immateriellen Werte bilden dann eigene ökonomische Kreisläufe. Aufmerksamkeit muss man sich verdienen und man kann sie auch tauschen, vor allem im Bereich der Musik. Man kann Aufmerksamkeit investieren, so investiert man die Aufmerksamkeit für die eigene Firma in junge Künstler, damit diese berühmt werden und ihrerseits die Aufmerksamkeit zurückgeben. Der Kunst und Kulturbereich hat in diesen ökonomischen Kreisläufen einen Erfahrungsvorsprung.
Daten sind immer immateriell, sie sind kopierbare und günstig in der Aufbewahrung, sie kennen damit keine Knappheit. Dazu zählen auch die Daten von Musikdateien. Spotify bietet beliebig viel Musik an, eine Knappheit des Angebots ist kaum herzustellen; die Knappheit ist vielmehr die Aufmerksamkeit der Zuhörer.
Einzigartigkeit der Produkte entsteht zum Beispiel durch gute Bewertungen von Konsumenten: Bewertungen entscheiden darüber, was gekauft wird. Durch sie entflieht das Produkt der Vergleichbarkeit. Ein herausragender Vertrieb des Produkts im Überfluss, der an einzigartigen Orten mit einzigartigen Kultkomponenten erfolgt, ist von großer Bedeutung.
Beziehungen werden zum wesentlichen Gut: Markenbeziehungen halten lange, persönliche Beziehungen sind harte Arbeit des Networking, ein Netz aus vielen Beziehungen vermehrt sich von allein. Die Hidden Values lassen sich nicht messen, fasste Pankow zusammen, und doch bilden sie eigene ökonomische Kreisläufe. Wer im Markt mitgestalten will, muss sie beherrschen.
Potenzial der Kunst in der Digitalität
Christian Esch sprach über die Möglichkeiten, die sich der Kunst in der Digitalität eröffnen. Er betonte, dass es sich nicht um eigentlich neue Möglichkeiten handelt und nannte etliche historische Beispiele aus dem Bereich Kunst der Mitte der 20. Jahrhunderts, die schon Ansätze kannte, wie sie in der Digitalität selbstverständlich werden. Wesensmerkmale sind:
* Ein Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Kräfte und Personen. Das gemeinsame künstlerische Ziel wird in einem Prozess des vernetzten Arbeitens erarbeitet.
* Kunst muss in der Digitalität nicht nur technisch staunenswert, sondern relevant im Inhalt werden.
* Community of practise; findet sich immer wieder neu in virtuellen Garagen zusammen (Muntendorf)
* Das Netzwerk ist die bestimmende Struktur der digitalen Gesellschaft. Module verbinden und überlagern sich in digitalen Produktionsprozessen.
Das zukünftige Publikum wird von Anfang an zum Mitwirkenden. Die Nutzer schaffen digitale Inhalte selbst – das haben die Games vorgemacht.
Die digitale Produktion spielt sich in der Community ab, sie agiert responsiv und interaktiv, auch integrativ. Und sie enthält Social-Media-Elemente, so dass die Vermittlung als intrinsischer Bestandteil enthalten ist. Physische Räume spielen eine geringe Rolle, auch im ländlichen Raum, wenn dort die Kabel einmal liegen und die Masten stehen. Die Bereitstellung von Technologien und von Qualifizierungen muss im Mittelpunkt der Förderung von Kunst in Bezug auf Digitalität stehen. Dazu ist ein passendes Förderkonzept notwendig, das derzeit im Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW auch entsteht. Es sollte modular aufgebaut sein und es sollte alle Akteure mit unterschiedlichen Schwerpunkten vernetzen, auch Städte und Regionen, wie ein neuronales System.
Auch ein Künstler sprach in der Tagung. Tim Berresheim stellte seine Bildreihe „Aspettatori“ und weitere Werke vor, die mit dem Abbild des menschlichen Körpers und mit einfachen geometrischen Figuren spielen. Der Künstler, Musiker, Label- und Projektraumbetreiber stellt seine Werke mit den Mitteln digitaler Bilderzeugung her und beschäftigt sich mit den Effekten digitaler Technologien auf visuelle Kultur, Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie auf die Wahrnehmung. Die digitalen Prozesse seiner Werkstatt sind äußerst rechenintensiv und erfordern Kooperationen mit Rechenzentren und ähnlichen Einrichtungen.
Veränderungen der Kulturellen Bildung
Susanne Keuchel beleuchtete Veränderungen durch Digitalisierung in der Kulturellen Bildung. Akteure beschäftigen sich aus ihrer Sicht immer noch sehr mit analogen Praktiken, trotz einer Aufbruchstimmung, die vor allem in den Jahren nach 2000 zu beobachten war. Die heute tätigen Mittler in der Kulturellen Bildung sind in Bezug auf digitale Bildungskonzepte in ihrer Ausbildung noch nicht geschult worden. Verstärkt wird dies durch das Phänomen, dass Forscher nach wie vor oft normative Bewertungen zugunsten des Analogen vornehmen. Das aber steht konträr zur Erlebniswelt junger Menschen. Wir haben derzeit kaum Einblicke in postdigitale jugendkulturelle künstlerische Ausdrucksformen, so Susanne Keuchel. Lebenswelten und Begriffe ändern sich schnell. Als Thesen führte sie aus:
* Die künstlerische Rezeption ändert sich durch Überlagerung der Ebenen, sie wird interaktiver.
* Streamingdienste, Tutorials auf Youtube und anderes sind unabhängig von Zeit und Raum verfügbar, doch die Gatekeeper sind andere als früher.
* Die künstlerische Produktion verändert sich, analog und digital vermischen sich spartenübergreifend.
* Digitale Räume ersetzen physische Räume.
* Die Digitalität eröffnet neue Inhalte.
Als postdigitale Handlungsoptionen nannte sie:
* Die systematische Einbeziehung digitaler Räume,
* Die Integration von digitalen Erfahrungswelten in die Inhalte der Kulturellen Bildung,
* Das Evaluieren neuer Aufgabenfelder, so etwa von Tutorials für das Einstudieren von Musikstücken,
* Die Sensibilisierung für die Schnittstellen zwischen analog und digital und
* Das Angebot eines gesellschaftlichen Diskursraums durch die Akteure der Kulturellen Bildung.
Die Politik muss diese Handlungsoptionen unterstützen, so Keuchels abschließende Forderung.
Arbeitsgruppen und Diskussionforen beschäftigten sich mit den operativen Ableitungen der Vorträge: mit den Hidden Values (Pankow), dem künstlerischen Arbeiten in der Kulturvermittlung mit neuen Medien (Horst Pohlmann), den neuen Vermarktungsstrategien für Künstlerinnen und Künstler (Kreuzer) und den neuen Ausdrucksformen in der künstlerischen Arbeit durch Digitalität (Antje Nöhren). Claudia Sowa moderierte die Tagung, mit der die Kulturregion Bergisches Land als Teil der Regionalen Kulturpolitik des Landes einen weiteren Schritt hin auf ein strukturiertes und reflektiertes Verhältnis von Kulturförderung, Kunst und Digitalität unternahm.
Robert von Zahn
Foto: Tagung Kunst.Kultur.Digitalität in Remscheid am 3. April 2019, Horst Pohlmann, Antje Nöhren, Anselm Kreuzer, Mads Pankow. Foto: LMR NRW.