Der Trägerverein der Landesmusikakademie NRW traf sich am 29. November zur Jahresversammlung. Begleitet wurde sie von zwei öffentlichen Vorträgen im Themenfeld Musikpädagogik und Digitalität. Es tut sich viel in diesem Bereich und so waren auch etliche Besucher im Konzertsaal der Akademie, die mit dem Trägerverein nichts zu tun hatten. Prof. Dr. Juliane Gerland von der Universität Bielefeld stellte ein Forschungsprojekt vor, das die Potenziale sondiert, die das musikalische Arbeiten mit Smartphone-Applikationen (Apps) von Menschen mit komplexer Behinderung bereitstellt.
Das Forschungsprojekt verbindet verschiedene Disziplinen sowohl von inklusionssensiblen Bildungswissenschaften als auch von behinderungsspezifischen Forschungen. Es will das subjektive Erleben der Nutzung von Musik-Apps als Tools für die Musikproduktion und -rezeption erfassen. Es will Herausforderungen und Potenziale digitaler Medien für Musikpädagogen identifizieren. Und es will die Teilhabe bzw. den Interaktions- und den Aneignungsprozess durch Musik-Apps analysieren. Für die musikpädagogische Praxis ist vor allem wichtig, dass das Projekt Formen aufschlüsseln soll, wie kulturelle Bildung künftig ausgestattet werden muss, um Menschen mit komplexen Behinderungen angemessen einbinden zu können.
Aber Juliane Gerland verwahrte sich von vornherein gegen die Erwartung, dass Projekt könne auch zu einer Kanonisierung von Apps führen, zur Bewertungen, die Musikpädagogen als Auswahlkatalog dienen könnten. Das stünde nicht im Fokus des Projekts und dazu entwickele sich die Branche auch zu schnell.
In der ersten Phase des Forschungsprojekts haben die Wissenschaftlerinnen vor allem Interviews mit Akteuren geführt und dabei drei erste Feststellungen getroffen:
- Digitale Tools werden eigentlich noch kaum als Musikinstrumente genutzt. Analoge Instrumente werden als die "echten", die digitalen eher als "unseriös" empfunden.
- Digitale Instrumente werden oft als nutzbringend im Sinne einer Vorstufe zum Spielen "echter" Instrumente empfunden.
- Die Anwendung der digitalen Instrumente findet in der Regel in einem analog geprägten Rahmen statt, denn es gibt noch keine idiomatische musikpädagogische Praxis.
Auf letztere Feststellung verwandte Juliane Gerland einige Überlegungen. Dass es eine idiomatische musikpädagogische Praxis noch nicht gibt, werde oft damit gerechtfertigt, dass die Dynamik der technischen Entwicklungen eine Etablierung noch nicht zulasse. Auffallend findet Gerland dabei, dass es leichter fällt, nicht-professionelle Musiker in die Arbeit mit Smartphones einzubeziehen als professionelle. Diese Phänomene enthalten das Risiko, dass die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bringt, ausgesessen werden. Dabei ist Digitalität Realität und es geht im fachlichen Diskurs fast nur noch um postdigitale Fragen. Hinter dem Trend zum Aussitzen vermutet Gerland Ängste. Dabei sollten sich doch alle im musikpädagogischen Feld entspannen, was speziell die Angst anginge, ob durch Digitalisierung etwas abgeschafft werde.
Diese optimistische Perspektive schuf die richtige Grundlage für Markus Brachtendorf, einem Musikschullehrer an der Musikschule Leverkusen und frei schaffenden Sozialpädagogen. Markus Brachtendorf koordiniert und unterstützt seine pädagogische Arbeit vollständig vom Smartphone aus. Es ist nicht nur ein Mittel der Gruppenkoordination, sondern es hält auch alle Hilfsmittel für den pädagogischen Alltag bereit. Seine Konzeptionsarbeit erfolgt als Mindmapping mit der App Simplemind, in der er die Themen festlegt, die Hilfsmittel als Skizzen, Notenblätter, Klangrealisationen und filmische Anweisungen erschafft und zuordnet, um schließlich seine jugendlichen Schülerinnen und Schüler damit zu versorgen. Alle Dateien werden nicht auf dem Smartphone abgespeichert, sondern in eine Cloud geladen, damit sie universell zur Verfügung stehen.
Anhand der Vermittlung eines Grooves, der aus einer einfachen Bodypercussion besteht, demonstrierte er, wie man nicht nur effektive Vermittlungsmittel am Smartphone erschafft, sondern diese auch so designt, dass sie jugendaffin wirken und beachtet werden.
Manches erfolgt dabei in einfacher analoger Form. So malt er etwa den Rhythmus des Grooves in einer einfachen graphischen Darstellung auf ein Stück Papier, das er mit einer Scan-App und dem Smartphone scannt und per sozialem Netzwerk in die Gruppe der Jugendlichen sendet. Mit einer Sprachmemo-App nimmt er den Groove mit Stampfen und Klatschen auf. Dann filmt er sich dabei, bietet den Jugendlichen aber nicht den dokumentarischen Film in purer Form, sondern bearbeitet diesen mit Effekten der IMovie-App, so dass das Ergebnis "cool" wirkt und gerne gesehen wird.
Die versammelten Musikpädagoginnen und -pädagogen nahmen die hemdsärmelige und effektive Demonstration sehr gerne an. Manchen sah man heimlich die Apps seines Handys prüfen. Auch die Diskussion mit Juliane Gerland ließ großes Interesse an den Ergebnissen für die musikpädagogische Praxis erkennen. So ziemlich alle werden diese Ergebnisse gebrauchen können, so selbstverständlich ist die Arbeit mit Gruppen größter Heterogenität in den Voraussetzungen geworden.
Die Landesmusikakademie wird die nächste Jahresversammlung am 30. November 2019 mit einer Tagung über Musikpädagogik und Digitalität verbinden und im Dortmunder U abhalten. Dann wird Juliane Gerland mehr aus ihrem Forschungsprojekt präsentieren können und auch Markus Brachtendorf einen weiteren praxisorientierten Workshop anbieten.
rvz
Fotos: Akademiedirektorin Antje Valentin und die Referenten Markus Brachtendorf und Prof. Dr. Juliane Gerland in der Diskussion, Heek-Nienborg, 29. November 2018; Foto: LMR NRW