Die 34 Sängerinnen eines Projektchors des Mädchenchors am Essener Dom leisten Großes, als sie sich mit der Spektralmusik von Horatio Radulescu auseinandersetzen. Radulescu macht es seinen Interpretinnen in seiner Dichtung "Do Emerge Ultimate Silence" nicht leicht. Sie umgibt die Hörer mit Klanggeflechten, die sich nicht nur in einem dichten Spektrum von Skalen bewegen, sondern die den Raum gestalten, ihre Richtung wechseln und als Klangbewegung ständig neu entstehen.
Das Steuern dieser Klänge entzieht sich einer herkömmlichen Partitur. So arbeitet Radulescu mit graphischen Anweisungen, die Klangbewegungen initiieren und der einzelnen Sängerin dabei Freiräume in der Gestaltung lassen. Als Legende erklären mehrere Seiten seiner Partitur, wie und wann welches graphisches Zeichen auszuführen ist. Jede Sängerin hat einen Klangstab, von dem sie ihren Ton abnimmt. Oft stimmt sie ihn solistisch an, worauf er sich mit anderen Tönen verbindet. Schwebungen entstehen, spektrale Klangkombinationen scheinen durch den Dom zu wandern, zwischen denen das Aufblitzen der Klangstäbe Akzente setzt. Zuweilen crescendieren die Chorgruppen zu gemeinsamen Ausrufen.
Den Sängerinnen fordert dies höchste Konzentration, eine klare Stimmführung und souveränen Gestaltungswillen ab. Wie ein Dompteur agiert Dirigent Raimund Wippermann in der Mitte der im Dom verteilten Musikerinnen. Ihn unterstützt ein Lichtsignal, das im Domgewölbe das Metrum und jeden fünften Schlag wie einen Takt markiert. 25 Minuten lang hüllt der klingende Kokon die Hörer im Essener Dom ein, dann fegt der lang anhaltende Applaus alle nachhallenden Töne weg und lässt den vorne zusammen gekommenen Chor sich wieder und wieder verbeugen.
SPLASH, das Landesjugendensemble, das ganz der Perkussion verpflichtet ist, setzt sich mit Radulescus "Faint Sun" auseinander. Spektrale Organisation prägt hier die rhythmischen Formen, die in dem Stück entstehen. Doppelschläge der einzelnen Marimbaphone überlagern einander und bilden rhythmische Patterns, die das Stück durchziehen und in der Domakustik auf sich selbst zurückgeworfen werden. Die Musikerinnen und Musiker zelebrieren "Faint Sun" souverän und präzise, ihre Coolness steht im Kontrast zur Spiritualität, die die Interpretation im Dom gewinnt.
Als Uraufführung spielt SPLASH Wilfried Maria Danners "Cinque Pezzi" für Percussion-Ensemble. Es sind fünf Charakterstücke, die teils mit fast schroffem Ausdruck, dann wieder tänzerisch und sogar feierlich mit den Schlagzeugklangfarben arbeiten, zwischendrin auch auf einzelne Klänge fokussieren und diese halten, bis man sie nur noch erahnen kann. Anders, mit einer stringenten Entwicklung des Ensemble-Sounds kommt Hannah Hanbiel Chois "Splash!" daher. Uraufgeführt hat SPLASH dieses Werk auf einer Südkorea-Tournee in diesem Sommer, nun erfolgt im Festival "NOW" die deutsche Erstaufführung. Ungemein dynamisch gehen sieben Schlagzeugerinnen und Schlagzeuer des Ensembles dieses Stück an. Man spürt, dass sie es schon oft in Konzertsälen gespielt haben. Für die Akustik des Doms ist es zu wirbelnd - manche komplexe Rhythmusfigur versteckt sich im Nachhall der vorherigen. Doch beeindruckend ist die Sprache der Koreanerin, die zuletzt in Köln studiert hat, auch in der sakralen Umgebung.
Wie ein ästhetisches Fundament des Programms hat Raimund Wippermann einen Chorsatz von Josquin Desprez an den Beginn des Konzerts gesetzt: "Qui habitat in adjutorio altissimi" für 24-stimmigen gemischten Chor hat Wippermann für den Mädchenchor und Basso continuo arrangiert. Auch hier setzt er auf räumliche Wirkung und stellt den Chor rings um das Publikum herum, so dass die 24 Stimmen sich erst im Zentrum des Doms zu vereinen scheinen. Radulescu hatte Desprez' Werke verehrt und in den Eckwerken des Programms versteht man die Gemeinsamkeit, die die beiden Komponisten über die Epochen hinweg verband.
Ralf Holtschneider und Stephan Froleyks leiteten SPLASH, Sebastian Küchler-Blessing begleitete den Chor in den Desprez-Interpretation an der Orgel. Günter Steinke und Vincent Royer berieten bei der Realisierung von "Do Emerge Ultimate Silence". Die Werke von Wilfried Maria Danner und Hannah Hanbiel Choi sind Auftragswerke des Landesmusikrats NRW, gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW, welches auch die Arbeit von SPLASH und den anderen Landesjugendensembles finanziert.
rvz
Fotos: 1. Der Projektchor des Mädchenchors am Essener Dom singt Radulescu im Dom, 24.10.15, Probenfoto; 2. Raimund Wippermann dirigiert Desprez, Sebastian Küchler-Blessing an der Orgel; 3+4. SPLASH spielt Wilfried Maria Danners "Cinque Pezzi", Probenfoto und Aufführungsfoto; Projektchor, SPLASH und links Stephan Froleyks und Ralf Holtschneider im Dom. Fotos: LMR NRW.