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Szenen migrationsgeprägter Musik in NRW

2. Podium zur kulturellen Vielfalt im Musikleben

 

Thomas Sternberg, Professor der Theologie, Leiter einer Bildungsstätte in Münster und Kulturpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, ist fasziniert von der Vielfalt, die die Dortmunder Studie zur kulturellen Vielfalt von Meral Cerci aufzeigt. Im 2. Forum zur Musikalischen Vielfalt des Landesmusikrats befragte er am 5. September im Dortmunder Solendo Meral Cerci, Birger Gesthuisen, Michael Rappe, Talia Bahir und Andreas Heuser nach den Szenen und Phänomenen von ethnisch geprägter Musik in NRW.

Meral Cerci erforscht seit 2005 die kulturellen Grundlagen der Einwanderer in NRW. Zunächst versuchte sie eine Sekundäranalyse, die jedoch erschreckend wenig erbrachte " zu gering war die Zahl der bis dahin vorgelegten einschlägigen Arbeiten. Ihr blieb nur die Grundlagenforschung, die sich in ihrer Studie "Kulturelle Vielfalt in Dortmund" auch den kulturellen Präferenzen widmete.

 

Die Dortmunder Studie erweist ein generelles Interesse (28 % der Befragten) an Weltmusikveranstaltungen, wenngleich nur 5 % der Befragten wirklich Veranstaltungen besucht hatten. Das Potenzial ist riesig, stellt Meral Cerci fest, die Veranstalter und die Spielstätten müssen es nur erschließen und Kommunikationswege zu den Interessenten finden. Das Interesse gilt dabei weniger der Musik der Herkunftsländer als der Musik, die mit Bezug zu jener neu in NRW entsteht.

 

Welche Musik also wird dann in diesen Stätten erklingen" Michael Rappe, Professor für Popmusik an der Kölner Musikhochschule, aber auch Musiker und DJ, fasst diese Musik als "ein Alles" an Musik auf. Dadurch wird das Phänomen Weltmusik sehr spannend. Die vielfältigen Formen kann man im Wettbewerb Creole NRW erleben, aus dessen Anlass diese Diskussion stattfindet. Einerseits treten dort typische Folklore-Gruppen auf, die authentische Musik aus anderen Ländern bringen, andererseits sind Stile zu hören, die in NRW aus verschiedenen Einflüssen heraus entstanden sind.

 

Was von diesen Stilen genügt dem Begriff einer Authentizität" Gibt es überhaupt eine authentische Weltmusik" Rappe räumt ein, dass der Begriff "Weltmusik" als Instrument einer Einordnung nicht funktioniert. Weltmusik bedeutet eine Wanderung von Musik von einem Teil der Welt zu einem anderen Teil. Michael Rappe erkennt Authentizität dann, wenn hörbar ist, dass die Menschen auf der Bühne wissen, was sie tun. Wenn sie reflektieren, inwieweit ihr Herkunftsland mit dem, was sie spielen, zusammenhängt. Authentizität ist also nicht eine lokale Verortung, sondern eher eine Verbindlichkeit im Tun und in der Kommunikation.

 

Spiegelt sich denn überhaupt authentische Zuwanderungsgeschichte in der Musik, die in NRW entsteht" Der Sozialwissenschaftler und Journalist Birger Gesthuisen beschreibt in einer Studie für den Landesmusikrat eine Musikszene, die aus überwiegend professionellen Akteuren besteht, in der sich aber auch Amateure betätigen. Viele von ihnen entdecken erst in NRW die Musik ihres Herkunftslandes. Wären sie in ihrem Herkunftsland oder in dem ihrer Eltern geblieben, hätten sie sich vielleicht mit der Musik dort kaum befasst. Doch in einem anderen Land begegnen Migranten durch die Musik ihrer Heimat, ihre musikalische Aktivität steigert sich in der Fremde erheblich. Thomas Sternberg sieht dieses Phänomen ebenso bei Deutschen, die im Ausland leben. Birger Gesthuisen nennt als Beispiel Frauen aus Fernost, denen er im Rahmen seiner Studie begegnete. Etwa Südkoreanerinnen wachsen in den Bildungsstätten von Seoul mit der Kunstmusik des Westens auf, sie lernen dort sogar alte deutsche Lieder. Doch als Immigranten in NRW beschäftigen sie sich dann aus Gründen der Identitätssicherung mit der eigentlichen Musik ihrer Heimat.

 

Wie kann man diese Impulse konstruktiv zusammenbringen" Thomas Sternberg erinnert sich etwas sarkastisch der Zeiten, in denen man hoffte, durch das schiere Zusammenbringen der Kulturen auch den Austausch und die Entstehung von Neuem zu initiieren. Wie geht ein professioneller Programmmacher und Weltmusikfestivalveranstalter wie Andreas Heuser an ein solches Vorhaben heran" Heuser sieht die zwiespältige Situation, dass heute jede Musikform global als Tonkonserve zur Verfügung steht, dass aber die Affinität von Musikern zu anderen Stilen oft gering ist. Örtliches Beieinander zu initiieren, reicht in der Regel nicht. Der Veranstalter von Begegnungsfestivals muss sich in die verschiedenen Welten einarbeiten, muss als Musiker die Rhythmen der anderen leben, die Improvisationsformen begreifen, die musikalischen Sprachen verstehen. Selbst auf engem Raum gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen der Kulturen. Wie verschieden kulturell beeinflusst allein schon die Musiker von Heusers erfolgreichem "Transorient Orchestra" sind, erstaunt auch ihn immer wieder neu.

 

Wie also entwickelt sich aus zwei kulturellen Einflüssen ein neues künstlerisches Drittes" Heuser sieht den Musiker in einer Verantwortung gegenüber der anderen Musikkultur, aus der er sich bedient. Oft werden nur dekorative Elemente herausgelöst, was nicht weiterführt, dem künstlerischen Prozess eher schadet. Thomas Sternberg vermutet, dass sich gerade in dieser Hinsicht in den letzten zehn Jahren viel verbessert hat. Birger Gesthuisen erkennt jedenfalls eine Tendenz zur Professionalisierung an. Auch der Wettbewerb Creole NRW ist dafür ein wichtiges Forum. Doch andere Länder sind weiter als Deutschland, das im Vergleich etwa zu den Niederlanden wie eine Wüste anmutet. Dort gibt es vier Spielstätten, die keine andere Aufgabe haben als die, die Musik der Hochkulturen anderer Länder vorzustellen. Sie bieten Monat für Monat zehn bis 15 Konzerte an. Nicht ganz so weit entwickelt, doch alle Male weiter als Deutschland sind Belgien und Frankreich.

 

Es ist vor allem eine mentale Frage: Der Nordrhein-Westfale muss sich in seinem Verständnis vom Umgang mit den Musiken, die um die Ecke wohnen, entwickeln. Die Weltmusikexpertin Talia Bahir weist darauf hin, dass es in NRW so viele ethnische Musiker wie in Paris gibt, aber weitaus weniger Arbeitsmöglichkeiten. Eine Ausnahme ist die Konzertreihe "Klangkosmos", die Weltmusikgruppen in vielen Städten NRWs präsentiert.

 

Ein korrespondierendes Phänomen sieht Talia Bahir in der Situation der musikalischen Bildung in NRW. Beispielsweise gibt es noch kein Diplom in außereuropäischer Musik, was in anderen Ländern selbstverständlich ist. Michael Rappe hält ihr die Tendenz unter den Studierenden entgegen, sich mehr mit Weltmusik auseinanderzusetzen. Doch Teil eines offiziellen Lehrprogramms ist dies nicht, sondern geschieht eher als Ausprobieren von Stilen, Klangfarben und technischen Sounds. Es gibt speziell in der Kölner Musikhochschule spannende Treffen auf musikalischer Ebene, doch die Ergebnisse dringen nur schwer in die Lehrpläne ein.

 

Kulturelle Identität

Thomas Sternberg sieht das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer volksmusikalischen Tradition als besondere Rahmenbedingung für Musik von Migranten in NRW. Andreas Heuser hat oft überrascht festgestellt, wie viele deutsche Lieder türkische Musiker kennen, während die Deutschen abgeschnitten von ihren kulturellen Wurzeln im Singen wirken. Er fordert seine Musiker in der Band ungern auf, doch einmal ein deutsches Volkslied orientalisch zu singen, was aber etwa in skandinavischen Ländern in entsprechender Form völlig selbstverständlich geschieht. In jenen Ländern fühlen sich die Menschen kaum abgeschnitten von ihren Wurzeln. Thomas Sternberg fragt, ob dieses Phänomen in NRW als Defizit korrigiert werden oder ob man auf das Wiedererwecken von alten Traditionen des Volksmusizierens verzichten sollte. Ist da etwas aufzuarbeiten oder wäre das ein Anachronismus" Heuser sieht darin keinen Anachronismus. Viele Gruppen arbeiten in diese Richtung. Entscheidend ist stets die eigene Sozialisation. Seine eigene begann mit der angloamerikanischen Popmusik, die seine Schwester hörte und gegen die er sich emanzipieren musste. Thomas Sternberg hat oft festgestellt, dass seine Generation beim gemeinsamen erinnernden Singen zur Gitarre letztlich bei amerikanischen Folk-Liedern endet.

 

Wohin sollte man sich denn auch zurück bewegen" Auch wenn jede Volksmusik irgendwie lokal gebunden ist, steht sie immer in einem Veränderungskontext. Birger Gesthuisen sieht alle Musikformen in ständigen Zusammenhängen der Veränderung und hält die Fixierung auf einen bestimmten "Urzustand" für Unsinn. Aber man kann die Traditionen zusammenbringen und aus ihnen Neues entwickeln. Ist denn das neu, was er in den Konzerten von Creole NRW hört, fragt Thomas Sternberg. Michael Rappe bestätigt dies. Diese Musikformen im Wettbewerb sind lokal verortet und gleichzeitig global. Das mag hybrid wirken, ist aber natürlich: Das Neue entsteht, indem es das Alte mitnimmt, in der Veränderung neue Individualität herstellt und eine lokale Gebundenheit herstellt.

 

Thomas Sternberg fragt nach Zentren in NRW. Wo sind besonders engagierte Gruppen oder Foren, auf die man achten sollte" Die Frage geht an alle, doch die Antworten sprudeln nicht. Den Gesichtern sieht man an, wie vielfältig die Phänomene sind und wie schwer die Wahl, in der Aufzählung bei einem Akteur zu beginnen. Meral Cerci sieht hier jedenfalls einen enormen Kommunikationsbedarf. Birger Gesthuisen nennt drei Orte, die für ihn die wichtigsten Foren der ethnischen Musik sind: Das Domicil in Dortmund, der Bunker Ulmenwall in Bielefeld und der Stadtgarten in Köln. Typischerweise kommen alle drei vom Jazz her und haben sich in einer natürlichen Erweiterung ihres Programmspektrums der Weltmusik geöffnet. Ansonsten fehlt es an Spielstätten. Es gibt in NRW sehr viele Musiker, die sehr viel anzubieten haben, mahnt Gesthuisen, doch wir haben kaum Bühnen für sie.

 

Es gibt positive Ansätze in der musikalischen Bildung: Thomas Sternberg verweist auf das Landesprogramm "Jedem Kind ein Instrument" für die Kommunen des Ruhrgebiets. Zu den Angeboten der Schulen und Musikschulkräfte an die Schüler müssen zwei ethnische Instrumente zählen, so schreiben es die Geldgeber, Bundeskulturstiftung und Land NRW, vor. Doch in der Regel rückt nur die türkische Langhalslaute Bağlama in das Angebot ein. Denn hier haben manche Musikschulen bereits Erfahrung sammeln können. Das Programm "Bağlama für alle" des Kultursekretariats Wuppertal hat das Instrument in vielen Musikschulen heimisch gemacht und auch dazu geführt, dass die Bağlama als einzige ethnische Instrumentalwertung erfolgreich in den Landeswettbewerb Jugend musiziert NRW einzog.

 

Reicht das aber aus" Bildet die Bağlama nicht einen winzig kleinen Teil des Spektrums an Instrumenten ab, die in NRW gespielt werden" Talia Bahir wundert sich darüber, dass in Deutschland immer die Bağlama vorne an steht. In Frankreich wird ein breiteres Spektrum an Instrumentalunterricht in den Schulen angeboten, es wird allerdings nicht auf die Herkunft der Schüler bezogen vermittelt. Es lernen viel mehr Franzosen Perkussionsinstrumente als Einwanderer aus Algerien. Birger Gesthuisen hingegen verteidigt "Bağlama für alle". Immerhin signalisiert das Programm, dass die Ausbildung am Instrument einer anderen Kultur ernst genommen und in die Angebote der Musikschulen integriert wird. Viele andere Kulturphänomene sind hingegen gar nicht in das Bildungswesen NRWs vernetzt.

 

Das gilt auch für Veranstaltungen. Die größte Musikveranstaltung in NRW fand am Ostersamstag 2008 statt, so Birger Gesthuisen, doch sie wurde von der angemieteten Arena nicht beworben. 10.000 Iraner wussten auch so, wohin sie mussten, und sie kamen. Mit großem Werbeaufwand lockte das NRW-Fest in Wuppertal Ende August Hunderttausende Nordrhein-Westfalen nach Wuppertal, wo allein seitens des Landesmusikrats zwanzig Orchester, Big Bands und Ensembles Musik aus NRW boten. Doch gar nicht weit weg trafen sich über tausend Deutschrussen zu einem kaum beworbenen Festival der Bardenmusik, von dem in anderen Kulturszenen keiner weiß. In Köln gibt es Leuchttürme der persischen Musik, die in derselben Stadt bei Bürgern anderer Herkunft vollkommen unbekannt sind. Denn die Ansprache der durch Migration verbundenen Szenen in NRW ist vielen ein Buch mit sieben Siegel, die Kommunikation funktioniert über Multiplikatoren, die szeneimmanent agieren. Auch Birger Gesthuisen kann die Kommunikationsstrukturen nur als existent benennen, aber nicht erschließen.

 

Thomas Sternberg sieht die Szenen der Russland-Deutschen als eine weithin unbekannte Größe an. Dass sie immer schon als Deutsche statistisch zählen, führt dazu, ihr Potenzial als Zielgruppe zu unterschätzen. Frau Cerci bestätigt, dass es sich bei ihnen in Dortmund um die weitaus größte Gruppe handelt, größer als die der türkischstämmigen Bürger. Sie gibt Birger Gesthuisen recht: Ein Ergebnis ihrer Studie war die Definition eines der wichtigsten Handlungsfelder, der Kommunikationsaufbau mit einem großen, interessierten Publikum. Die Bereitschaft der Interessenten, sich über die Ortsgrenzen hinaus zu Kunst und Kultur hin zu bewegen, ist groß. Thomas Sternberg befürchtet, dass die Konzentration einer Politik der kulturellen Integration auf die türkischstämmigen Bürger das Problem zu sehr verengt. Auch die Ausrichtung des Kulturhauptstadt-2010-Großprojekt Melez auf Türken greife zu kurz. Zumindest die Russland-Deutschen müssen als Migrationsgruppe mitgedacht werden.

 

Mit der Vermittlung von kultureller Bildung stellt man auch kulturelle Identität her. Ist es da sinnvoll, auf Herkunftskulturen affirmativ einzugehen" Soll man die Bildungsangebote wirklich von der vermuteten kulturellen Herkunft der Jugendlichen abhängig machen" Eine Grundlagenausbildung, die auch Tonsysteme anderer Kulturen berücksichtigt, findet Birger Gesthuisen absolut sinnvoll. Michael Rappe ist davon überzeugt, dass für eine typische deutsche Grundschulklasse eine Sinfonie Ludwig van Beethovens mindestens so fremd ist wie indische Musik. Wesentlich ist es, im Unterricht auf die Lust zu setzen, etwas anderes kennenzulernen. Das kann ebenso afrikanischer Hiphop wie Beethoven sein. Meral Cerci sieht kulturelle Bildung als eine Facette der Identitätsbildung an. Letztlich ist das Aufwachsen in kultureller Vielfalt für die meisten Kinder und Jugendlichen in NRW Normalität. Auf eine besondere Bindung an eine bestimmte Herkunftskultur muss man da kaum eingehen. Da ist Birger Gesthuisen skeptisch. Die Realität zeige doch eher, dass sich Jugendliche ihrer Herkunft bewusst sind und eine eher geringe Bereitschaft zur Öffnung gegenüber Anderem haben. Im Musikleben zeigt sich dann komplementär, dass Ensembles und Bands einer bestimmten ethnischen Musik an Ensembles einer anderen ethnischen Richtung überhaupt nicht interessiert sind.

 

Thomas Sternberg bezweifelt, dass ein Bildungsangebot, das ein Kind oder einen Jugendlichen an seiner Migrationsherkunft packt, der richtige Ansatz ist. So wie Japaner die besten Interpreten der Musik Johann Sebastian Bachs werden, könnte der beste Interpret türkischer Musik ein blondes Mädchen aus dem Münsterland werden. Muss man einem türkischstämmigen Jugendlichen sagen: Du musst Dich doch für Bağlama interessieren, bei uns kannst du ihr Spiel erlernen" Meral Cerci und Talia Bahir sind überzeugt davon, dass man sorgfältig differenzieren muss, möchte man Jugendlich in ihrer konkreten Herkunft ansprechen. Aber Angebote müssen gemacht werden. Talia Bahir sieht die Ursache für mangelndes Interesse an Kultur darin, dass es die Strukturen zu wenig gibt, in denen Entdeckungen möglich sind. Man muss generell allen Angebote machen, damit sich Individuen für Kunst und Kultur interessieren und Neues entwickeln.

Robert v. Zahn

 

Foto oben: Thomas Sternberg, Meral Cerci, Andreas Heuser.

Foto unten: Michael Rappe, Talia Bahir, Thomas Sternberg, Meral Cerci, Andreas Heuser, Birger Gesthuisen.

Fotos: Landesmusikrat NRW

 

<link fileadmin user_upload stumpf weltmusik_panels_2008.pdf _blank>Berichte über die vier Podiumsdiskussionen zur musikalischen Vielfalt, 4.-7.9.2008 in Dortmund (PDF-Datei, 90 KB) ...