In den vergangenen sieben Jahren hat sich das Essener Festival „NOW“ zu einem der renommiertesten Festivals für die Musik der Gegenwart entwickelt. Ein Netz von Partnern rings um die Philharmonie Essen als Hauptveranstalter sorgt alljährlich für ein Programm, dessen wechselndes Motto nicht PR-Mittel, sondern tatsächlicher Anker der einzelnen Konzertprogramme ist. In diesem Jahr widmet sich das Festival den Grenzgängern, und es war dem Landesjugendensemble SPLASH: Perkussion NRW ein besonderes Vergnügen, eine Reihe von Grenzgänger-Interpretationen beizusteuern. Zudem diente das Motto als Anlass, den amerikanischen, in Berlin lehrenden Vibraphonisten und Komponisten David Friedman in das Salzlager der Zeche Zollverein einzuladen.
Friedman ist Grenzgänger zwischen Jazz und komponierter Neuer Musik. Für SPLASH zählt eines seiner Duos seit der Gründung des Ensembles 2006 zu den Lieblingswerken unter den Musikern, über alle Generationswechsel im Jugendensemble hinweg. „Carousel“ für Vibraphon und Marimbaphon war entsprechend trotz seiner geringen Musikerzahl ein Kernstück im Konzertprogramm. Charlotte Hahn und Fabian Kraus haben es schon oft gespielt, doch nachdem Friedman einer Probe beigewohnt, vieles gelobt und vieles angeregt hatte, gingen die beiden nun mit größerer Lust an der Improvisation zur Sache. Auch für Kenner des Werks war die Realisierung im Salzlager sicherlich eine der spannendsten Fassungen.
Rein improvisierend zeigte sich der Komponist selbst: Locker aus dem Publikum auf die Bühne tretend, ein Vibraphon aus der Phalanx der dort versammelten Mallet-Instrumente herauslösend und vier Schlägel aus dem mitgebrachten Beutel schälend, bekannte sich Friedman zur völlig spontanen Improvisation, die seiner Meinung nach im Konzertleben auf dem Rückzug sei. Was in der nächsten Viertelstunde an hingebungsvollen und fantasiereichen Klangpirouetten folgte, mutete in der Tat wie ein Siegeszug freier Kreativität auf Metallplatten an. Begeistert folgte das Publikum im Salzlager jeder Wendung von Friedmans Solo.
Aus der Taufe hob SPLASH seine Komposition „Tell Me A Story“ für fünf Perkussionisten an Xylofon, Vibrafon, Marimbafon, Cymbals, Snare-Drum und Tom-Toms. Sie ist eine Studie über die durchlässigen Grenzen zwischen Neuer Musik, Rockgroove, Jazz und klassischem Repertoire. Verbunden werden die Genres durch den erzählenden Charakter des Werks, der durch gerufene Partien verstärkt wird. Wovon die Musiker erzählen, das zu enträtseln bleibt dem Hörer überlassen.
Auch Stephan Froleyks erzählt. Er, der zusammen mit Ralf Holtschneider das Ensemble leitet, hat SPLASH seine „Stücke und Gesten“ auf den Leib geschrieben. Perkussive Miniaturen verschränken sich ineinander, und auch hier sind die Musikerinnen und Musiker gehalten, chorisch und solistisch mit Worten zu agieren. Miniaturen, Sätze und Gesten verbanden sich zu einer sensiblen und warm klingenden Konstruktion, die sich im Salzlager mit der dahinter stehenden Kabakovschen Installation des „Palastes der Projekte“ zu verbinden schien.
Der brasilianische Komponist Paulo Costa Lima wandelt in seinem Werk „Cauíza“ zwischen den Kulturen seines Landes und der westlichen Kunsttradition, für die etwa Zitate aus Schumanns „Dichterliebe“ stehen. Die rhythmisch forcierte Spiellust geht auf die indianische Caboclo-Kultur zurück. Wort- und Rhythmuszitate der SPLASH-Musiker gelten Robert Schumanns Lied „Ich grolle nicht“ aus der „Dichterliebe“. Die drei Werke von Friedman, Froleyks und Lima sind vom Landesmusikrat NRW in Auftrag gegeben worden, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW hat die Aufträge gefördert.
Älter, gleichwohl umso lebendiger ist Alexander Lepaks Septett „5/4 Joe" aus dem Jahre 1992. SPLASH stellte sich mit hörbarer Lust den vertrackten Rhythmen und surfte mit Lepak auf den Wogen Neuer Musik mit rockigen Ausläufern. Auch die „Arirang Fantasie“ des Koreaners Iljoo Lee begeht eine Grenze, die zwischen koreanischer Volksmusik und abendländisch geprägter Kunstmusik. Mitunter scheint sie mit Trillerpfeifen und Juchzen den Charakter eines Volksfests anzunehmen.
Das NOW-Publikum nahm das Vexierbild, das vom Motto des Festivals entstand, mit Enthusiasmus auf. Die Schlagzeugerinnen und Schlagzeuger sowie Ralf Holtschneider und Stephan Froleyks nahmen ihren internationalen Gast in die Mitte und trennten sich nur schwer von diesem espritreichen Ort in der Zeche Zollverein.
Am 4. November, 19 Uhr, wird das Jugendzupforchester NRW unter Leitung von Christian de Witt dem Motto des Festivals Tribut zollen. Unter anderem steht eine Uraufführung von Koray Berat Sari auf dem Programm, die die traditionellen Stimmgruppen eines Zupforchesters, Mandolinen und Gitarren, mit einer neuen Gruppe aus Baglamas vereint.
rvz
Fotos: SPLASH am 22. Oktober 2017 im Salzlager der Zeche Zollverein, David Friedman improvisiert ein Vibraphon-Solo; Fotos: LMR NRW.