Als Julius Schepansky seinem Akkordeon feinfühlig und virtuos die Aria und zwei Variationen aus Bachs „Goldbergvariationen“ entlockte, stand die Frage der Tagung allen plastisch vor Augen: Wie findet man derartige Hochbegabungen und wie kann man sie adäquat fördern? In der Landesmusikakademie NRW hatten sich die Leiterinnen und Leiter fast aller Hochbegabtenzentren und Precolleges an nordrhein-westfälischen Musikhochschulen und Musikschulen versammelt, dazu vier Studierende dieser Einrichtungen und der in Würzburg lehrende Musikpsychologe Andreas Lehmann. Gäste waren Musikpädagogen jeglicher Art, Vertreter der Landesjugendensembles, des Landesverbandes der Musikschulen und weiterer Verbände, aber auch Vertreter von Musikvereinen.
Sollte jemand unter ihnen geglaubt haben, es gelte, genetisch disponierte Genies zu entdecken, machte Andreas Lehmann diesen in seinem Hauptvortrag eindrücklich klar, dass Hochbegabung in aller Regel das Ergebnis einer stimmigen fördernden Umgebung der kindlichen und jugendlichen Musikerin oder des Musikers ist. Und das Ergebnis kontinuierlichen Übens. Es gibt zwar einige wenige „Genies“, denen das Spielen des Instruments auch ohne fördernde Umgebung „zufliegt“, doch es sind derart wenige, dass man sich nicht auf diese fokussieren sollte. Lehmann gab einen Überblick über die einschlägigen Forschungsergebnisse jüngerer Zeit. Eindeutig ergaben sie: Hochbegabung ist in erster Linie harte Arbeit und qualitativ hochwertiges und kontinuierliches Üben.
Der typische erste Impuls bei der Entstehung von Begabung ist der Wille der Eltern, die Startposition der Kinder im Bildungssystem zu verbessern. Studien haben gezeigt, dass Faktoren wie Migrationshintergrund und Haushaltseinkommen weniger wichtig sind als die Effekte des Bildungsabschlusses der Eltern. Das Schrumpfen der Mittelschicht ist aber eine wichtige Rahmenbedingung, ebenso die Legitimationsprobleme ästhetischer Bildung und der Rückgang der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an bildungsorientierten und informellen kulturellen Freizeitangeboten. Welche Gelingensbedingungen ermöglichen da die Entstehung von Begabung?
Da ist vor allem die prägende Person im Hintergrund oder auch eine Personengruppe. Lehmann spricht von den „Persons in Shadow“, Eltern, Lehrern, Mentoren, dem sozialen Umfeld. Die organisatorische Leistung der Eltern, oft der Mütter, die den Alltagsbetrieb mit Üben, Unterrichtsstunden und Vorspielen organisieren, ist nicht zu überschätzen. Auch nicht die Größe der finanziellen Ressource, die Eltern bereit stellen. Lehmann rechnete vor, dass in jedem seiner Musikstudenten mindestens 40.000 Euro privater Investition stecken, eher deutlich mehr. "We were looking for exceptional kids and what we found were exceptional conditions," lautet das Resultat einer amerikanischen Studie (Sloboda et al.)
Was also können wir vor allem für Hochbegabte tun, fragte Lehmann am Schluss seines Vortrags und schlug vor, sensible Phasen bei Kindern zu unterstützen und bedarfsgerecht zu „füttern“, zu lernen, die verschiedenen Dimensionen von Talent zu erkennen und zu würdigen, dem Kind und sich selbst klare Ziele zu setzen, die Selbstregulation des Kindes zu befördern, das Kind vor Erfolgsansprüchen von außen schützen, das soziale Umfeld auszuloten und realistisch zu beraten und mit professionellen Netzwerken zusammenzuarbeiten, die Erfahrung in der Begabtenförderung haben und gegebenenfalls auch Schüler rechtzeitig weiterreichen.
Neben Julius Schepansky traten drei weitere Jungstudierende an und demonstrierten ihre superbe Kunst. Simon Staub vom Detmolder Jungstudierendeninstitut spielte Auszüge aus den Papillons von Robert Schumann. Lotte Nuria Adler aus der S-Klasse der Folkwang-Musikschule spielte an der Mandoline ein Preludio von Raffaele Calace op. 63. Die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 von Franz Liszt erklang durch die Studierende des Hochbegabtenzentrums „Schumann junior“ der Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf Yumeka Nakagawa. Alle vier gaben Auskünfte über ihre Arbeit im Instrument in einem öffentlichen Gespräch mit Akademiedirektorin Antje Valentin. Ihre Eltern sind die wichtigsten Förderer, das wurde aus ihren Antworten deutlich. Zwei nannten ihre Lehrer. Isoliert sind sie keineswegs, diesem Klischee widersprachen sie entschieden, ausgerichtet auf solistisches Tun auch nicht. Auf die Frage, was sie sich noch an besserer Förderung wünschen würden, bekannten sich drei von ihnen zur Lust am Ensemble-Spiel, speziell an kleiner besetzter Kammermusik.
Im Foyer präsentierten sich Nachwuchsförderinstitute aus NRW und auch der Verein zur Förderung von Landesjugendensembles NRW, der mit der Jungen Bläserphilharmonie NRW und dem Landesjugendorchester NRW zwei Klangkörper anbietet, in denen vor allem hochbegabte Teilnehmer des Wettbewerbs Jugend musiziert mitspielen.
In der Abschlussdiskussion moderierte Robert v. Zahn das Gespräch von Andreas Lehmann, Piotr Oczkowski vom Detmolder Jungstudierenden-Institut an der Hochschule für Musik Detmold, Gudula Rosa von der Jugendakademie Münster, Barbara Szczepanska vom Begabtenzentrum Schumann junior der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf sowie Hans-Günther Weber von der S-Klasse und der Studienvorbereitenden Ausbildung an der Folkwang Musikschule Essen. Ute Hasenauer, Leiterin des Precollege der Hochschule für Musik und Tanz Köln, war erkrankt.
Wie steht es um die Nahtstelle zwischen Schule, Musikschule und Musikhochschule, was die Förderung von Hochbegabten angeht? Barbara Szczepanska skizzierte die Arbeit ihres Begabtenzentrums, das von Hochbegabten gefunden wird, das diese aber auch sucht. Nicht immer klappt die Zusammenarbeit mit den Musikschulkräften, die manchmal nur ungern „abgeben“, wie Szczepanska kritisierte. Lebhaft protestierte Gudula Rosa und setzte dem die gute Zusammenarbeit von Musikschule und Hochschule in Münster entgegen. Die gemeinsame Gründung der Jugendakademie stehe geradezu für die ineinandergreifende Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen.
Auch die S-Klasse Hans-Günther Webers in Essen geht von einer Musikschule aus, nicht von einer Hochschule, und so zeigte die Diskussion, dass sich die Arbeitsteilung zwischen Musikschule und Hochschule in Bezug auf die Hochbegabten strukturell verändert und dies regional durchaus unterschiedlich. Wichtig ist es, sich nicht nur mit den Jungstudierenden, sondern auch mit ihrer Umgebung zu beschäftigen. Piotr Oczkowski schilderte die Elternarbeit in Detmold, das Zusammenspiel zwischen Elternhaus und Jungstudierenden-Institut kann Reibungen aufweisen. Die Frage, was für die Jugendlichen das Beste ist, wird zuweilen sehr verschieden beantwortet.
Welche Rolle können Grundschulmusikalisierungsprojekte wie JeKits spielen? Entdecken wir in einer solchen Grundschulklasse Hochbegabte, nehmen wir sie mit oder sondern wir sie aus, lautete eine der Fragestellungen in der Einladung zur Tagung. Alle Gesprächsteilnehmer plädierten dafür, Hochbegabte sofort einer gezielten Förderung zuzuführen. Andreas Lehmann wies darauf hin, dass diese Unterstützung in aller Regel auch schon bestehe und die Begabung gerade aus der unmittelbaren fördernden Umgebungssituation des Kindes entstanden sei. Manche Musikalisierungsprogramme seien aber für die Förderung von Begabten geeigneter als andere. Besonders positiv sah Lehmann das „Monheimer Modell“. Antje Valentin schloss die Tagung mit der erklärten Absicht, diese und etliche weitere Impulse in späteren Veranstaltungen weiterzuentwickeln.
Kooperationspartner der Landesmusikakademie NRW waren die Jugendakademie Münster der Musikhochschule und der Westfälischen Schule für Musik Münster, das Jungstudierenden-Institut der Musikhochschule Detmold, das Precollege der Hochschule für Musik und Tanz Köln, das Nachwuchsförderinstitut i.Gr. der Folkwang Universität Essen, das Ausbildungszentrum Schumann junior der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, die S-Klasse der Folkwang Musikschule Essen, der Verein zur Förderung von Landesjugendensembles NRW und der Landesmusikrat NRW. Die Tagung wurde von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Landesmusikakademie unterstützt, die Akademie wird institutionell vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW gefördert.
WDR3 sendet einen Tagungsbericht am 2. September um 15:44 Uhr. Im Netz steht er dann unter: <link http: www.wdr3.de musik musikalischebegabung100.html _blank>www.wdr3.de/musik/musikalischebegabung100.html.
rvz
Fotos: Simon Staub; Foto: LMR NRW.
Andreas Lehmann, Foto: privat.
Lotte Nuria Adler; Yumeka Nakagawa, Simon Staub, Julius Schepansky und Lotte Nuria Adler im Gespräch mit Antje Valentin (Mitte); Julius Schepansky; Yumeka Nakagawa; Fotos: LMR NRW.
Gudula Rosa, Piotr Oczkowski, Barbara Szczepanska, Robert v. Zahn, Andreas Lehmann, Hans-Günther Weber; Foto: LMA NRW.