Wer sich mit dieser monumentalen Partitur auseinandersetzt, braucht Mut, Improvisationskönnen und Augenmaß. Cornelius Cardews graphische Notation zu "Treatise" von 1968 gibt von geometrischen Körpern, traditionellen, aber isolierten Notationszeichen bis hin ausladenden Kurven alles in die Hand, nur keine Regeln. Die Ensemble-Musiker können die Grafik frei interpretieren, aber sie bleiben dabei ein Kollektiv und sollten sich dessen bewusst sein. Und nicht zu professionell voreingenommen.
Cardew schätzte den Laienmusiker. 1968 bekannte er in seinem Aufsatz "Towards an Ethik of Improvisation": “Am besten sollte solche Musik von einer Gruppe musikalisch Unschuldiger gespielt werden. [...] Meine dankbarsten Erfahrungen mit Treatise sind durch Leute entstanden, die durch einiges Glück a) eine bildkünstlerische Ausbildung erworben haben, b) einer musikalischen Ausbildung entronnen sind und c) nichtsdestotrotz Musiker wurden, die Musik mit der ganzen Überzeugung ihres Seins spielen.”
Nun, die Musiker von Studio musikFabrik und Splash, beides Landesjugendensembles, sind einer musikalischen Ausbildung beileibe nicht entronnen, sondern durchweg Preisträger des Wettbewerbs Jugend musiziert NRW, doch in Bezug auf Cardew waren sie offen, als sie unter Anleitung von Peter Veale die Arbeit an Treatise aufnahmen und am 3. Dezember im Festival Schlüsselwerke des Kölner Netzwerks Neue Musik ON vorstellten.
Im Studio der musikFabrik boten noch zwei Ensembles Ausschnitte aus demselben Werk: das ensemble]h[iatus und ein Trio in der Besetzung Perkussion, Gitarre, Turntables und Elektronik mit Erhard Hirt, Claus van Bebber und Eddie Prevost, der bereits 1968 an der Uraufführung von Treatise mitgewirkt hat.
Deutlich wurde, dass die beiden Jugendensembles mehr Wert als die beiden nach ihnen auftretenden Gruppen auf das geschlossene Interpretieren als Ensemble legten. Die Partitur wurde per Beamer vor und hinter das Publikum projiziert, ein roter Streifen glitt über Cardews Grafiken, denen die Jugendensembles musikalisch folgten.
Dass man das Werk individueller umsetzen kann, erfuhren die Besucher in den nachfolgenden Aufführungen und dass dies völlig legitim ist, erläuterte Eddie Prévost im öffentlichen Gespräch mit Felix Klopotek vor dem Konzert. Prévost hatte schon 1968 an der Uraufführung teilgenommen und erinnerte sich, dass die Musiker dabei in der synchronen Abfolge bis zu zwei Partiturseiten auseinander lagen.
Die Landesjugendensembles stehen in der Trägerschaft des Landesmusikrats in Kooperation mit der musikFabrik und werden vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW gefördert. Die Reihe Schlüsselwerke wird gefördert durch das Netzwerk für neue Musik, die Stadt Köln und die RheinEnergieStiftung Kultur.
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Fotos: Studio musikFabrik, Jugendensemble des Landesmusikrats, und SPLASH interpretieren "Treatise" am 3. Dezember 2011 im Studio der musikFabrik (Fotos 1 und 2). Felix Klopotek und Eddie Prévost im Gespräch über die Uraufführung von "Treatise". Fotos: LMR NRW