Ein „Länderspiel“ – das ist die Begegnung von Landesjugendensembles für neue Musik aus sechs Bundesländern im Umspannwerk am Berliner Alexanderplatz. Auf Einladung des nordrhein-westfälischen Ensembles musikFabrik sind an die 130 Musikerinnen und Musiker am 16. November 2013 zusammengekommen, um in sechs Konzerten vorzuzeigen und zu hören, in welcher Weise sich junge Spezial-Ensembles in Deutschland mit der zeitgenössischen Musik auseinandersetzen.
Der Vormittag führt zunächst einmal die Ensemble-Leiter mit Fachleuten der Neuen Musik zu einer Podiumsdiskussion zusammen, die neben Moderatorin Cathy Milliken gleich zwölf Diskutanten aufweist: Dieter Mack (Komponist und Hochschullehrer Lübeck), Jürgen Krebber (Internationales Musikinstitut Darmstadt), Thomas Oesterdiekhoff (musikFabrik, Köln), Johannes Hildebrandt (Komponist und Leiter „via nova“ Thüringen), Kristin Nehrmann (Landesmusikakademie Niedersachsen und Referentin für das Landesjugendensemble Neue Musik), Friedrich Wedell (Landesjugendensemble für Neue Musik Schleswig-Holstein), Winrich Hopp (Musikfest Berlin), Jobst Liebrecht und Gerhard Scherer (Landesjugendensemble für Neue Musik Berlin), Gerhard R. Koch (Journalist), Peter Veale (musikFabrik und Künstlerischer Leiter des Studios musikFabrik) und Walter Reiter (Landesjugendensemble Rheinland-Pfalz).
Die Diskussion zeichnet ein facettenreiches Bild von der Unterschiedlichkeit der Ensembles. Das älteste ist das rheinland-pfälzische, das bereits 1992 für Studenten gebildet wurde und das Walter Reiter dann mehr auf die Zielgruppe der Schüler zwischen 14 und 19 Jahren ausrichtete. Das jüngste ist das Landesjugendensemble für Neue Musik Berlin, das erst 2013 entstand und das aufgrund seiner Organisation in Form eines „Pools“ von dezentral arbeitenden Einzel-Ensembles in der Lage ist, eine Besetzung von bis zu 55 Musikern zusammenzubringen.
Meist entstanden die Ensembles aus Einzelinitiativen und kamen dann mit gefestigten Strukturen in die Trägerschaft eines Vereines oder Verbandes, zumeist zum jeweiligen Landesmusikrat. Das nordrhein-westfälische hingegen ist vom Landesmusikrat NRW 2006 direkt zusammengeführt und gegründet worden, dasjenige in Schleswig-Holstein entstand 2008 als Projekt eines der 15 „Netzwerke Neuer Musik“, die die Bundeskulturstiftung ins Leben gerufen hatte – ein steiniger Weg, wie Friedrich Wedell erfrischend offen berichtete, denn zum ersten ausgeschriebenen Probespiel kam gar niemand. Erst ein zweiter Versuch aus mehreren lokalen Ensembles heraus führte zum Erfolg.
Die meisten Ensembles haben einen festen Dirigenten, im Falle des „Studio musikFabrik“ sind es hingegen Musiker aus dem Ensemble musikFabrik, die die jungen Kräfte coachen und aus ihren Reihen den Leiter oder die Leiterin stellen. Derzeit dirigiert Peter Veale. Auch in Niedersachsen gibt es ein Team von Dozenten herum, dessen konstante Größen Carin Levine und Michael Wendeberg sind.
Auch die Finanzierung ist sehr verschieden. Fest etatisierten Ensembles stehen Unternehmungen wie „via nova“ in Thüringen gegenüber, das Projektetats akquirieren muss, aber für 2014 auf die Trägerschaft des dortigen Landesmusikrats und einen festen Etat hofft. In Niedersachsen trägt der Norddeutsche Rundfunk gleich die Hälfte des Jahresbudgets.
Wie stehen die Ensembles im Musikleben der Bundesrepublik? Gerhard R. Koch muss einräumen, dass er noch bis vor kurzer Zeit kein einziges der Ensembles irgendwo gehört hat. Erst kürzlich in Kassel erlebte er das Studio musikFabrik und war beeindruckt von der Qualität der Interpretationen. Er sieht generell die Qualitäten der Spezial-Ensembles der Neuen Musik als eine wirkliche Alternative zur Arbeit der großen Sinfonieorchester. Die Spezial-Ensembles seien nicht für Komponisten, sondern auch für die jungen Musiker wichtig. Nur in diesen würden sie eine besondere Kommunikation durch Musik erlernen und die Chance zu einer „nicht entfremdeten“ künstlerischen Arbeit erhalten.
Längere Zeit diskutiert die Runde über die Rolle der Musikhochschulen und deren Haltung zu Spezial-Ensembles für Neue Musik. Sie ist ambivalent. Viele sehen die Rolle dieser Ensembles in der Hochschulaufgabe, junge Musiker auf das Berufsleben vorzubereiten, als eher marginal an. An anderen Häusern gibt es hingegen auch auf diesem Feld engagierte Professoren. Letztlich spielen aber die Jugendensembles für Neue Musik eine besondere Rolle durch ihre Fokussierung auf jüngere Schülerinnen und Schüler, denen bereits die Tür zur Neuen Musik geöffnet werden soll.
Bedarf es dazu eines speziellen, pädagogisch geprägten Repertoires? Manche Ensembles wie das Thüringische vergeben Kompositionsaufträge und schreiben dabei den Komponisten nicht nur die Besetzung, sondern auch den möglichen Schwierigkeitsgrad vor, so erläutert es Johannes Hildebrandt, der selbst Komponist ist und kritisiert, dass Kompositionsstudenten an Hochschulen oft das Gefühl vermittelt bekämen, sie würden im Berufsleben nur für das „Ensemble Recherche“ arbeiten.
Andere Ensembles wie das Kölner machen da keine Zugeständnisse. Thomas Oesterdiekhoff sieht in Bezug auf das Repertoire keine Sondersituation der Jugendensembles. Ein Landesjugendensemble muss in der Lage sein, bei den Darmstädter Ferienkursen als vollwertiger Akteur aufzutreten. Peter Veale erläutert dazu die schwierige Vorbereitung der anforderungsreichen Komposition „Luft“ von Dieter Mack durch das Studio musikFabrik für die Darmstädter Kurse.
Auch Winrich Hopp wehrt sich gegen eine Sonderbehandlung. Diese Landesjugendensembles sollen seiner Meinung nach in Konzerten und Festivals „auf Augenhöhe“ mitspielen und keine Konzessionen an den Schwierigkeitsgrad machen. Walter Reiter bekennt für sein Ensemble trocken, dass sie zu allen Schandtaten bereit seien. Aus dem Publikum weist Jens Cording auf Datenbanken zu Werken der Neuen Musik hin und äußert die Hoffnung, dass diese einmal im Deutschen Musikinformationszentrum zusammengeführt werden könnten.
Am Nachmittag und am Abend demonstrieren die sechs Ensembles, dass die sie der postulierten "Augenhöhe" durchaus gerecht werden können. Bis nach 22 Uhr erklingen Klassiker der Neuen Musik, etwa von Ligeti und von Stockhausen, aber auch Uraufführungen von Peter Helmut Lang und Johannes Hildebrandt. Organisatorin Frauke Meyer kann sich mit dem Team der musikFabrik über einen makellosen Veranstaltungsablauf freuen.
Höhepunkt des musikalischen Teils ist die gemeinschaftliche Aufführung von James Tenneys "Form 2", einer Konzeptkomposition, die von vier Gruppen zu je 15 Musikern rund um das Publikum realisiert wird und eine Art akustische Kathedrale entstehen lässt. Doch den größten Applaus erhält ein Schulprojekt, das an diesem Tag seinen Abschluss erlebt: Mit Klassen und Schülergruppen aus sechs Berliner Schulen haben Melvyn Poore und Cathy Milliken eine Ausführung von John Whites "Drinking and Hooting" vorbereitet. An die hundert Schülerinnen und Schüler blasen, über den großen Saal des Umspannwerks verteilt, auf Flaschenhälsen lange Töne, deren Tonhöhe sie durch Trinken stufenweise verändern. Die Klangskulptur vermischt sich mit den Klängen der in den Bahnhof Alexanderplatz einfahrenden S-Bahnen zu einer orgelhaften Ode an Musik und Klang der Gegenwart.
Das "Länderspiel", eine Veranstaltung der musikFabrik, wird gefördert von der Bundeskulturstiftung, vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW mit dem Landesmusikrat NRW, und von der Ernst von Siemens Musikstiftung.
rvz
Fotos: Das Landesjugendensemble für Neue Musik Berlin spielt eine Suite nach Henzes "Gisela" am 16. November 2013 im "Umspannwerk" Berlin. Das Studio musikFabrik interpretiert Birtwistles "Ritual Fragment". Das Landesjugendensemble für Neue Musik Thüringen spielt Peter Helmut Lang. Podiumsdiskussion im Umspannwerk, links Moderatorin Cathy Milliken. Peter Veale in der Podiumsdiskussion. Fotos: LMR NRW.
Symposium von Landesjugendensembles für Neue Musik im "Länderspiel"