2014 ist das Deutsch-Türkische Jahr der Forschung, Bildung und Innovation. Aus diesem Anlass wurden die Humboldt-Universität zu Berlin und die Istanbuler Technische Universität, Center for Advanced Studies in Music (MIAM), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, das Projekt „Transfer und Diversität. Musik und transkulturelle Praxis: Deutschland - Türkei“ durchzuführen. Umfangreiche Symposien fanden sowohl in Berlin als auch in Istanbul statt, die in Vorträgen, Panelgesprächen, Workshops und Konzerten einen weiten Weg von Volksmusik, türkischer Kunstmusik, Popmusik, Alter Musik, Neuer Musik, Feldforschung über transkulturelle Vermittlung von Musik, Kulturpolitik, Religion, Gender bis hin zur Musik von Flüchtlingen zwischen den Kulturen abschritten. Anschließen wird sich ein Kongress in Heek, der vom 7. bis 9. November musikpraktische Auswirkungen und musikpädagogische Fragestellungen zur türkischen Musik in Nordrhein-Westfalen anhand der Baǧlama diskutiert.
In Berlin leitete federführend Dr. Jin-Ah Kim vom Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der HU das Projekt, assistiert von Nevzat Çiftçi als wissenschaftlichem Assistenten. Professorin Şehvar Beşiroǧlu vom MIAM fungierte als türkischer Gegenpart, intensiv unterstützt durch Dr. Martin Greve vom Orient-Institut Istanbul. Die Grundidee, eine Untersuchung der deutsch-türkischen transkulturellen Musik und deren Praxis aus der Perspektive von Transfers und Diversität im Kontext von Europa und Asien, schimmerte immer wieder in den höchst unterschiedlichen Veranstaltungen durch.
Aus der Fülle seien nur einige Anregungen herausgegriffen: Beeindruckend waren die Einblicke in die traditionellen Musikkulturen der Türkei, beispielsweise anschauliche Videobeispiele von Migranten aus der Schwarzmeer Region und ihrer Musik in Deutschland (Dr. Abdullah Akat, Leiter des Studiengangs Musikwissenschaft des Staatlichen Konservatoriums der Technischen Scharzmeer-Universität in Trabzon). Wer weiß schon, dass dort am Schwarzmeer aufgrund der gebirgigen Lage und der über die Täler verstreuten Dörfer Menschen immer wieder auf Hochplateaus zu großen Festen zusammen finden, in denen Tausende an zwei oder drei Tagen in Folge gemeinsam musizieren, singen und tanzen? Und dass solche Feste inzwischen auch in Deutschland organisiert werden? Die Verstreutheit der Ansiedlungen in der Region führte zu einer großen Vielzahl von Stilen und Musikformen, die staatlicherseits als „Schwarzmeermusik“ vereinheitlicht wurde, in Wahrheit aber viele höchst unterschiedliche Stilistiken enthält.
Über Dichtersänger, sogenannte Aşiks oder Ozans und insbesondere den Sänger Neşet Ertaş (1938 - 2012) referierte Nevzat Ciftci. Dichtersänger sind auch heutzutage in der Türkei oder Deutschland berühmt und dichten und singen ihre eigenen Lieder als „sehendes Auge der Gesellschaft“. Einer dieser Aşiks, der ursprünglich aus Dersim stammende Kurde Lütfi Gültekin, war auch in Istanbul zu Gast. Er ist – auch aus politischen Gründen – in den 1970ern ausgewandert, hat versucht in Berlin Fuß zu fassen und landete dann in Belgien, um dort unter Tage zu arbeiten. Inzwischen ist der schon ältere Herr gemeinsam mit seinen Söhnen als Musiker in der Türkei populär und pendelt zwischen seinen Wohnorten in der Türkei und Brüssel. Eine faszinierende Lebensgeschichte, in der er nie den Kontakt zu „seiner“ Musik verloren hat.
Ein anderer Strang, der sowohl in Berlin als auch in Istanbul verfolgt wurde, ist die zeitgenössische Musik und ihre Entwicklung sowohl in der Türkei als auch von türkischen Komponisten in Deutschland. Namen wie Ahmed Adnan Saygun, Yunus Emre oder die heute wirkenden Komponisten Taner Akyol oder Sinem Altan wurden hier vorgestellt.
Prof. Dr. Erol Parlak, einer der wichtigsten Lehrer für Baǧlama an der ITÜ, referierte über die vielen Kulturen, die allein in Anatolien zu Hause sind, ihre Veränderung durch den verstärkten Zug in die Städte und die Entwicklungen, die das Hauptinstrument der türkischen Volksmusik, die Baǧlama, durchmacht. Im Grunde ist sie auf dem Weg, nicht mehr nur als Volksinstrument, sondern auch als virtuoses künstlerisches Instrument in der Neuen und neu gedachten Alten Musik und im Pop (elektrisch verstärkt) eine zunehmend eigene Rolle zu spielen, also universell einsetzbar zu werden.
Dr. Hande Saǧlam von der Musikuniversität Wien stellte ein transkulturelles Vermittlungsprojekt an Wiener Schulen vor, das die eigenen Lieder der Kinder – woher auch immer sie stammen – in den Mittelpunkt stellt. Zunehmend gibt es Musikstudierende, die als bikulturelle oder multikulturelle Menschen bezeichnet werden können, da sie ihre musikalische Heimat in zwei oder mehr Ländern haben und somit für Vermittlungsprojekte aus einer ganz eigenen musikalischen Sicht agieren können.
Auch die musikethnologische Forschung spielte mit dem Panel „Dokumentation und Wissenstransfer in der bilateralen Kommunikation - zum 100. Geburtstag von Kurt Reinhard und im Gedenken an Ursula Reinhard“ eine Rolle. Prof. Dr. Ralf Jäger von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. Lars Koch von Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem und Nevzat Çiftçi gaben einen Überblick über das große Werk des Musikethnologenpaares, das in zahlreichen Feldstudien in der Türkei wertvolle Dokumentationen der lebendigen Volksmusik vor Ort erstellte, die nun in Berlin-Dahlem aufgearbeitet werden.
Im Istanbuler Symposiumskonzert im Konzertsaal der ITÜ spielte außerdem ein türkisches Volksmusikensemble mit Studierenden, ein virtuoses Baǧlama-Duo mit Erol Parlak und Sinan Ayyıldız und ein Makam-Ensemble mit osmanischer Kunstmusik. Den Abschluss bildete das Neue Musik Ensemble des MIAM, das frische kammermusikalische Kompositionen von Lehrenden am MIAM vorstellte – interessanterweise unter Einbeziehung der traditionellen Instrumente Baǧlama und Kemençe.
Überwiegend positiv werden in Istanbul augenscheinlich die Entwicklungen in NRW gesehen, insbesondere, was die Einbeziehung der Baǧlama in pädagogische Kontexte, Konzertwesen und Wettbewerbe anbelangt.
Die Fülle der Informationen der Berliner und Istanbuler Veranstaltungen vermittelte ein manchmal nicht mehr zu überschauendes Bild, in dem aber immer wieder höchst wertvolle Einzelinformationen versteckt waren – letztendlich horizonterweiternd und inspirierend.
Über die Berliner Veranstaltungen soll ein Kongressbericht erscheinen, weitere Informationen sind hier zu finden: www.musikundmedien.hu-berlin.de/musikwissenschaft/bmbf-projekt/veranstaltungen
Vom 7. bis 9. November werden etliche der Referenten in der Landesmusikakademie NRW wieder zusammentreffen. Viele Ansätze aus Berlin und Istanbul können hier weiterentwickelt werden. Im Fokus steht die Baǧlama wie ein Kristallisationsobjekt der verschiedenen Tendenzen.
Weitere Informationen: www.landesmusikakademie-nrw.de/kursangebot/uebersicht/projekte/
(Antje Valentin)