"Musik lebt und sie entsteht immer neu", postulierte Markus Stenz in der Aula der Hochschule für Musik und Tanz Köln und eröffnete damit einen vierstündigen Einsatz für die Musik der Gegenwart. Zum zweiten Mal hatten das Gürzenich-Orchester, der Landesmusikrat NRW und die Hochschule für Musik und Tanz Köln zu einem Orchester-Workshop geladen, in dem drei Komponisten ihre Werke realisieren konnten.
Ein dem Workshop vorgeschalteter Wettbewerb hatte zur Auswahl von drei Künstlern geführt: Ying Wang ("Focus Fission"), Yasutaki Inamori ("Reversi") und Francisco Concha Goldschmidt ("Distribution"). Der Jury waren ihre Namen nicht bekannt gewesen, sie hatten über anonymisierte Partituren geurteilt, die eigens für diesen Workshop entstanden waren.
Zu den Initiatoren zählten Peter Tonger und André Sebald von der Arbeitsgemeinschaft "Musik in Beruf, Medien und Wirtschaft" des Landesmusikrats und Sebald hatte als Flötist des Gürzenich-Orchesters zugleich praktischen Anteil an der Durchführung der Idee. Die Orchestermusiker äußerten sich durchweg angetan von der Spielbarkeit der Stimmen, die ihnen da kurzfristig aufs Pult gelegt worden waren. Gleichwohl entspann sich während der Probe mancher Dialog zwischen einzelnen Musikern und den Komponisten.
Insbesondere Ying Wang forderte mit ihrer Partitur zu "Focus Fission" Fragen heraus, was schon im Konstruktionsprinzip ihres Werks angelegt war: Liegeklänge entstehen mal in einer, mal in einer anderen Stimmgruppe, sie erscheinen und verschwinden, schichten sich übereinander, kulminieren und ziehen sich zurück. Wer genau hinhört, merkt, dass es keine statischen Liegeklänge sind, sondern dass ihre Artikulation sich mit jedem Viertel verändert. Die Klangfarbe changiert permanent, Schatten bedecken die Töne. Für die Musiker bedeutet dies das Befolgen einer großen Zahl von Artikulationsanweisungen und nicht wenige werfen Fragen auf.
Behende schlängelte sich die Schülerin York Höllers und Johannes Schöllhorns durch die Pulte hindurch und erläuterte ihre Vorstellungen. Summt der Trompeter in sein Instrument oder wird er summend zum Vokalsolisten? Ist dieser Ton klingend oder transponiert notiert? Aufgeschlossen und flexibel folgten die Musikerinnen und Musiker des Gürzenich-Orchesters ihr und belohnten sie und das Publikum nach einer Stunde mit der Uraufführung des faszinierenden „Focus Fission“.
Yasutaki Inamori lässt in seinem „Reversi“ kurze Phrasen in energetischen Stößen aufeinanderfolgen und dann ineinander greifen. Die dynamische Wirkung der Bauteile teilt sich Orchester und Publikum unmittelbar mit. Oft forderten die schroffen Einwürfe und Taktwechsel das Zusammenspielen des Orchesters heraus. An einer Stelle hielt Markus Stenz inne – „ich erlaube mir, hier in die Komposition einzugreifen“ – und gliederte durch Vorziehen des Taktstrichs in einem 13/16-Takt das letzte Sechzehntel zum Folgtakt hin ab. Der Komponist trug es mit Fassung.
Das Werk folgt einer spannenden Gesamtdramaturgie und endet besinnlich mit langen Generalpausen im Schlussteil. Auch Francisco Concha Goldschmidt gliedert seine „Distribution“ souverän in turbulente, aber klar strukturierte Satzteile. Einzelne Stimmgruppenpartien sind individualisiert. Die Violinen mussten eine Passage als Gruppe gesondert proben. Auch bei diesem Stück gab mancher Musiker Anregungen zur Spielbarkeit und ein Kontrabassist mahnte, dass Triller und Tremolo zugleich nicht gingen. „Ehrliches Feedback“ meinte Stenz achselzuckend zu Goldschmidt.
Auch in dieser dritten und letzten Uraufführung am Ende des vierstündigen Workshops zeigte das Gürzenich-Orchester nicht nur ein spielenswertes Werk, sondern auch eine bemerkenswerte Lerngeschwindigkeit in Sachen aktueller Orchestermusik.
Die Jury des Wettbewerbs bestand aus Dr. Charlotte Seither, Prof. Johannes Schöllhorn, Prof. André Sebald, GMD Markus Stenz und Werner Wittersheim. Gefördert wurde das Projekt des Landesmusikrats NRW, des Gürzenich-Orchesters Köln und der Hochschule für Musik und Tanz Köln von den nordrhein-westfälischen Sparkassen. Die Organisation lag in den Händen von Eva Luise Roth (Landesmusikrat NRW) und Lilly Fritz, der Persönlichen Referentin des Gürzenich-Kapellmeisters.
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Fotos: Ying Wang und Markus Stenz über der Partitur zu "Focus Fission". Ying Wang, Markus Stenz, Yasutaki Inamori und Francisco Concha Goldschmidt nach den drei Uraufführungen im Konzertsaal der Hochschule für Musik und Tanz Köln, 20. Januar 2012.