“Zeit, Zeit, Zeit, Zeit” deklamieren die Zupfmusiker, nicht chorisch, sondern jeder für sich, erst verhalten, dann immer lauter werdend, um dann instrumental das Ticken von Uhren darzustellen. Das Ticken wird in Doppelschlägen gezupft, erst von Mandolinen, dann von Gitarren, und aus ihm heraus entsteht der Satz “Ich habe keine Zeit mich zu beeilen”. Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Bielefeld haben die mehrsätzige Komposition “Zeit” unter Anleitung des Komponisten Gerhard Stäbler geschrieben.
Die Partitur ist ein Packpapierbogen im Ausmaß mehrerer Quadratmeter. Sie hängt vor den Musikerinnen und Musikern des Jugendzupforchesters NRW am 22. Juni im Saal der Gesamtschule Mönchengladbach Neuwerk. Christian de Witt leitet das Ensemble, Gerhard Stäbler erläutert die Komposition. Er ist ein genauer Mentor und geht die Realisierung des Kollektivwerks mit großer Ernsthaftigkeit an: “Konzentriert euch auf das Publikum, wenn ihr die Worte sprecht, seht nicht euch an, ihr habt eine Botschaft an das Publikum.”
Es geht darum, eine Komposition aus dem Projekt “Haste Töne” einzustudieren, einem Projekt des NRW-Kultursekretariats Wuppertal, in dem 13 Schulklassen unter Mentorenschaft von acht nordrhein-westfälischen Komponisten Werke erarbeiten. Fünfmal war Stäbler in der Bielefelder Klasse und hat die Schülerinnen und Schüler dabei beraten, sich kompositorisch zu artikulieren. Professionelle Interpretation ist Pflicht. Etwas später flirren tremolierende Glissandi von Mandolinen und Gitarren durch die Luft, jeder für sich, bloß nicht zusammen. Sie münden in Einzeltöne, die eine Art akustisches Mosaik formen. Gerhard Stäbler ist nicht zufrieden: “Nehmt bitte keine leeren Saiten; das stört den Charakter des Individuellen.” Im Schlussteil des Werks wird der Satz “Die Zeit heilt alle Wunden” individuell in allen Sprachen deklamiert, die in der Klasse vertreten sind – das sind ganz schön viele.
Nach Stäbler kommt eine Klasse der gastgebenden Gesamtschule Neuwerk mit ihrem Werk in den Saal. Ihr Coach ist der Komponist David Graham aus Bonn, der gleichfalls die erste Realisierung der Klassenkomposition “Geheimnis” persönlich überwacht. Die Musik stellt den Streit zwischen zwei Mädchen um einen Jungen dar, Anbahnung und Eskalation, schließlich Versöhnung. Auch Graham achtet sorgfältig auf die detailgetreue Umsetzung der Partitur. Ist ein Crescendo mit 40 Sekunden Länge vorgegeben, sollen es auch 40 Sekunden ein. Christian de Witt nimmt die Stoppuhr zu Hilfe, jede noch so ausgefallenen Anweisung der Partitur greift er gewissenhaft auf. Die jungen Gemeinschaftskomponistinnen und -komponisten sind sich dabei über die Exegese ihrer überwiegend grafisch angelegten Partitur nicht immer einig, aber in der öffentlichen Werkstattprobe lässt sich alles lösen, auch mit Hilfe von Interpreten aus der Klasse selbst an Violine und Cajón.
Die Veranstaltung ist Teil des Festivals Ensemblia in Mönchengladbach. Die Fortsetzung und Vollendung dieser und weiterer Werke kann man am 15. Juli im Theater Duisburg hören. Dann treten auch Musiker der Duisburger Philharmoniker zu den Interpreten hinzu. 13 Klassen aus neun Städten in NRW haben ein Jahr lang Ideen entwickelt und gemeinsam mit ihren Lehrern und Coaches eigene Stücke komponiert. Neben David Graham und Gerhard Stäbler zählen Stefan Hakenberg, Brigitta Muntendorf und Oxana Omelchuk zu den Mentoren, für die Organisation sorgt Markus Stollenwerk. „Haste Töne“ wird aus Mitteln des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW gefördert.
rvz
Fotos: Gerhard Stäbler erläutert die Partitur der Gesamtschule Bielefeld. David Graham ist Mentor der Gesamtschule Mönchengladbach Neuwerk. Ein Ensemble des Jugendzupforchesters NRW realisiert "Geheimnis" der Gesamtschule Mönchengladbach Neuwerk. Partituranweisung aus Bielefeld. Schülerinnen verfolgen die Werkstattprobe. Fotos: LMR NRW.