Jahr für Jahr erhalten Gesangvereine, die ihr hundertjähriges Bestehen feiern, die Zelter-Plakette in einem würdevollen Festakt. Was nur wenige wissen: Die von Bundespräsident Heuss gestiftete Auszeichnung hat eine lange Vorgeschichte, die nicht durchgehend der Würde des Ereignisses gerecht wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten rheinische Chöre zum 50. und zum 100. Geburstag eine Ehrenmedaille. Die behielten sie nicht selbst, sondern setzten sie obligatorisch als Preis in einem Sängerwettstreit aus, in welchen die Chöre der Region mit großem Elan und Ehrgeiz zogen. So groß war der Ehrgeiz, dass es manchenorts zu Ausschreitungen kam. Das Ergebnis eines Sängerwettstreits in Köln-Lindenthal war unter den Teilnehmern sogar so umstritten, dass es Tumulte gab und Preisrichter das Lokal gedemütigt und gesenkten Haupts durch den Hinterausgang verlassen mussten. Anderenorts erregten Alkoholexzesse einen Grad von Aufmerksamkeit, der die Obrigkeit auf den Plan rief.
Die Obrigkeit: das war für das Rheinland zwischen 1815 und 1918 die preußische Regierung in Berlin und die hatte nicht nur im Falle der Sängerwettstreite ihre liebe Not, ein Reglement herzustellen, das für Ordnung und Würde in den Provinzen sorgte. Im zweitägigen Symposium "Musik im preußischen Rheinland" untersuchte der Kölner Musikwissenschaftler Christoph Müller-Oberhäuser die Verwaltungsanstrengungen, das Problem der Sängerwettstreite in den Griff zu bekommen: Berlin forderte Stellungnahmen der Präsidien und Oberpräsidien der Provinz zur gebotenen Reform der Förderung des Chorwesens an. Diese ließen sich Zeit und ihre Antworten erschienen widersprüchlich. Mehrfach wäre das Verfahren wohl ganz zum Erliegen gekommen, hätten nicht neue Nachrichten von Sängerwettstreitereien, die aus dem Ruder liefen, wieder Fahrt in die Angelegenheit gebracht. Es dauerte bis 1926, bis die Ehrenauszeichnungen der Jubilare von der Ausrichtung eines Wettbewerbs abgelöst wurden - erfolgreich. Seit vielen Jahren sehen die am Zelter-Festakt beteiligten Chöre ganz von Ausschreitungen ab.
"Danke Berlin" - unter diesem Motto finden dieses Jahr kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen statt, die der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz koordiniert und die am 25. und 26. Juni zur Tagung über das Musikleben am Rhein unter preußischem Regiment führten. Die Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte, der Landschaftsverband Rheinland, die Hochschule für Musik und Tanz Köln, die Universität der Künste Berlin und die Johannes Gutenberg Universität Mainz hatten sich zur Veranstaltergemeinschaft zusammengeschlossen. Die Kölner Hochschule schon aus dem Grund, als dass ihre Vorgeschichte selbst vom rheinisch-preußischen Verhältnis beeinflusst ist. Christian de Witt (Essen) legte die musikpädagogischen Grundprinzipien der Berliner Kestenbergschen Bildungsreform dar, die zur Gründung der Hochschule in Köln von Berlin aus führte, die Berliner Musikwissenschaftlerin Franziska Stoff (Berlin) bot dazu Quellen aus der Berliner Überlieferung, die die Stellung der Kölner Einrichtung in Konkurrenz zu den Hochschulbestrebungen anderer Städte beleuchteten.
Bedeutete der preußische Zugriff für das Musikleben im Rheinland eher Restriktion oder eher Fortschritt? Eindeutig positiv fielen die Bilanzen zweier Referentinnen aus, die sich mit dem Musikleben in Düsseldorf befassten, Yvonne Wasserloos (Düsseldorf) mit der Kirchenmusik zur Zeit Mendelssohnes und Sabine Mecking (Duisburg) mit den Düsseldorfer Gesang- und sonstigen Vereinen. Verhaltener die Einschätzung von Ursula Kramer (Mainz), die sich mit Eduard Devrient, den preußischen Bühnenreformideen und deren Erdung am Rhein auseinandersetzte. Es war jedenfalls eine Zeit, in der sich die Städte der Rheinschiene auf den Wert der kulturellen Einrichtungen besannen und die aus der Bürgerschaft heraus entstandenen Theater und auch Orchester in städtische Trägerschaft übernahmen - Düsseldorf zwei Jahrzehnte vor Köln, worauf Fabian Kolb (Mainz) hinwies, der sich mit der Institution "Städtischer Musikdirektor" auseinandersetzte. Und es war eine Zeit, in der der Musikalienhandel wuchs. Axel Beer (Mainz) zeigte auf, wie sehr sich das Händlernetz an der Rheinschiene verdichtete und wie groß die Bestände waren, die die Verlage auf Kommission bei der wachsenden Händlerzahl liegen hatten, so dass sie vom Kommissionsgeschäft immer mehr abkamen.
Klaus Wolfgang Niemöller (Köln) ging jüdischen Persönlichkeiten nach, die im katholisch und preußisch geprägten Köln das Musikleben mitgestalteten, Christine Siegert (Berlin) zeigte die wechselhaften politischen Vereinnahmungen des Ansehens Beethovens auf, Arnold Jacobshagen (Köln) besah die Niederrheinischen Musikfeste aus preußischer Sicht und Manfred Heidler (Bonn) die Militärmusik einmal nicht in ihrer kriegerischen Funktion, sondern als Bestandteil der bürgerlichen Alltagskultur.
Achim Hofer (Koblenz) schaute mit den Augen von Friedrich Wilhelm Wieprecht, eines Militärmusikkomponisten und Direktors der Musikkapellen des preußischen Garde-Korps, auf das Rheinland, während Marie Louise Herzfeld-Schild (Berlin) das katholische Gesangbuch von Heinrich Bone untersuchte: Der Oberlehrer an der Rheinischen Ritterakademie in Bedburg und spätere Gymnasialdirektor in Recklinghausen und dann in Mainz positionierte sich erzkatholisch im Kulturkampf, wovon auch sein seinerzeit verbreitetes Gesangbuch zeugt. Bemerkenswert ist die Urkunde seiner Pensionierung, in der die vorgedruckten Worte „unter Anerkennung langjähriger, treuer Dienste" durchgestrichen wurden - im Kulturkampf war man nicht zimperlich, wie schon Georg Mölich vom Landschaftsverband Rheinland in seinem das Themenfeld grundierenden Eröffnungsvortrag über Politik und Kultur im preußischen Rheinland aufzeigte.
Die Tagung wurde vom Landschaftsverband Rheinland gefördert, ihre Referate werden in der Schriftenreihe "Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte" (Kassel: Merseburger) veröffentlicht werden.
rvz
Fotos: Yvonne Wasserloos, Sabine Mecking, Christian de Witt, Arnold Jacobshagen und Georg Mölich in der Tagung "Musik im preußischen Rheinland (1815-1918)" am 25. und 26. Juni 2015 im Horion Haus Köln; Fotos: LMR NRW.