„Warum spielt ihr denn nicht die Stimmen, die ich extra für euch arrangiert habe?“ Aber die beiden Altsaxophonistinnen wissen von nichts und behaupten, sie hätten nur eine Stimme. Davon muss sich Dozentin und Jazzbassistin Ulla Oster selbst überzeugen und kommt herüber. Ein Blick in die Noten löst das Rätsel auf: Das sind die falschen Blätter! Es ist Samstagnachmittag und um 20.30 Uhr haben die sieben Workshop-Teilnehmerinnen ihren öffentlichen Auftritt im Bielefelder Bunker Ulmenwall. Da heißt es konzentriert arbeiten, Soli und Übergänge absprechen, einen Durchlauf der Stücke spielen und vertrackte Stellen üben. Zwar darf man jetzt keine unnötige Zeit verlieren, aber bei aller Improvisation ist manchmal eben auch Genauigkeit gefordert, zumindest wenn es um das Thema geht. Alle geben sich Mühe, auch wenn jahreszeitlich bedingt einige der Teilnehmerinnen – von Schals umschlungen – gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe sind.
Den jungen Frauen, die sich für Jazz, Weltmusik und Improvisation interessieren, bietet der Workshop „FreiSpiel“, den der Landesmusikrat NRW in Kooperation mit dem Bunker Ulmenwall und der Musikschule POW! an zwei Wochenenden im November und Dezember nun zum vierten Mal in Bielefeld veranstaltet hat, einen geschützten Raum. Dies scheint sinnvoll, da der Anteil von Musikerinnen in den aktuellen Szenen von avancierter improvisierter Musik und improvisierter Weltmusik in Nordrhein-Westfalen sehr gering ist. Unter der Leitung von Ulla Oster (Bass, Piano) und Christina Fuchs (Klarinette, Saxophon), zwei der wenigen professionellen Musikerinnen in dieser Szene in NRW, ging es darum, die eigene künstlerische Sprache der Teilnehmerinnen im Zusammenspiel mit anderen zu entwickeln.
Der Workshop 2011 versuchte den Zugang zur eigenen Kreativität über eine Musikkultur zu öffnen, die traditionell stark in der Improvisation verwurzelt ist: die Musik des arabisch-anatolischen Raums. Am ersten Wochenende ging es dementsprechend um die praktische Beschäftigung mit dem fremden Tonsystem, um Skalen, harmonische Zusammenhänge jenseits des bekannten Dur-Moll-Systems und ornamentale Spieltechniken. Der Schwerpunkt des zweiten Wochenendes lag auf den sieben einstudierten Stücken, teils mit türkischen („Gitti de Gitti“ und „Belalim“ vom Taksin Trio, türk. Traditional), teils mit irakischen Hintergrund („Madmy“, irak. Traditional), aber auch ein Standard wie „Footprints“ von Wayne Shorter und zum Thema ausgesuchte Stück wie „The Way I Feel“ von Asa und „Foreign Legion“ von Tin Hat Trio. „Je veux“ von Zaz wirkte in diesem Umfeld fast fremd, aber da es von allen, insbesondere von Sängerin Ruth Kordbalag, mit so viel Herzblut vorgetragen wurde, vergaß man dies schnell und genoss die Abwechslung.
Großen Freiraum für Eigenes bot das „Dirigat“ der jungen Musikerinnen zwischen den Stücken. Jeweils eine Teilnehmerin (alle kamen dran, keine durfte sich drücken) stellte sich in die Mitte und „dirigierte“ bzw. erschuf durch Gesten (z.B. rhythmisches Markieren, Wischen, voluminöses Wühlen, Markieren von Tonhöhen durch Handzeichen) eine Klangwelt nach ihrer Vorstellung – natürlich nur, wenn die „Andirigierten“ auch taten, was ihnen bedeutet wurde. Der Rest war Improvisation.
Die Zusammensetzung des Ensembles ist bei einem solchen Workshop immer auch Glücksache, nicht nur, weil die Teilnehmerinnen unterschiedliche Voraussetzungen z.B. hinsichtlich der Spielfertigkeit auf ihrem Instrument mitbringen, sondern zunächst einmal allein dadurch, welches Instrument sie mitbringen. Dieses Mal waren zwei Sängerinnen dabei (Ruth Kordbarlag, Shabnam Divingele), zwei Altsaxophonistinnen (Luise Volkmann und Hannah Stulik), eine Trompeterin (Lucie Potthoff), eine Geigerin (Huda Knobloch) und eine Pianistin (Charlotte Kohl-Gorski). Die fehlenden Instrumente der Rhythmusgruppe ersetzten die Dozentinnen mit E-Bass und ein paar Beats auf dem Cajón. Staunen durfte man über die reife Virtuosität und Musikalität von Luise Volkmann, über die schöne Intonation und Einfühlung in die orientalische Klangwelt von Huda Knobloch und die präzise Klangvorstellung von Lucie Pothoff. Wie immer bleibt zu hoffen, dass die Teilnehmerinnen „dranbleiben“ und ihren Weg in der Improvisation weitergehen. Das Konzert am Abend im Bunker Ulmenwall jedenfalls, so ließ sich hören, muss ein Erfolg gewesen sein.
Der Workshop „FreiSpiel – Improvisationsworkshop für junge Frauen“ wurde gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW. Die Organisation vor Ort lag in den Händen von Kerstin Belz.
hs
Fotos: LMR NRW
1. (v.l.n.r.) Huda Knobloch, Luise Volkmann, Hannah Stulik, Christina Fuchs, Lucie Potthoff, Charlotte Kohl-Gorski
2. (v.l.n.r.) Ruth Kordbarlag, Ulla Oster, Huda Knobloch, Shabnam Divingele (die gerade "dirigiert")
3. (v.l.n.r.) Ulla Oster, Huda Knobloch, Luise Volkmann